Reden und Malen wieder erlernen

Wie eine Frau einer Hamburger Stadtteilinitiative und ein Wandmaler dazu kamen, in Pristina die 300 Quadratmeter große Mauer eines Theaters mit regionalen Motiven zu bemalen  ■ Von Petra Schellen

Flora Brovina? Ismail Kadaré? Was wir im Westen so schlaumeiern! „Die wollten Texte junger Autoren auf ihrem Wandgemälde haben, Zeilen, die ganz aktuell das Leben nach dem Krieg verarbeiten; Dichten scheint eine Art Volkssport zu sein im Kosovo.“ Die dies sagen sind Anne Vertein von der Stadtteilinitiative „Amanda 58 e.V.“ aus dem Schanzenviertel und der Wandmaler Eckart Keller, die die Bemalung einer 300 Quadratmeter großen Wand des Nationaltheaters Pristina organisierten – und das ganz selbstverständlich finden.

„Begonnen hat die Begegnung mit dem Kosovo im März 1999 mit Beginn der Nato-Bombardierung“, erzählt Anne Vertein. Damals flog die Uno Flüchtlinge aus den Sammellagern in Albanien und Mazedonien aus, und 20 Studenten landeten hier in Hamburg. „Wir haben dann – finanziert von der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung – Deutschkurse und Computerschulungen organisiert, damit sie hier oder anderswo eine Zugangsberechtigung für die Uni bekamen“, erzählt sie. Ein Jahr lang haben sie die Studenten geschult, offensichtlich mit Erfolg: Fünf von ihnen sind in Deutschland, einer davon ist in Hamburg geblieben, die übrigen leben wieder im Kosovo.

„So hat es angefangen, unser Interesse für den Kosovo. Wir sind dann mal hingeflogen, um zu gu-cken, was man tun kann im Bereich Kunst und Kultur. Wir wollten allerdings keine klassischen sozialen Projekte durchführen, und so sind wir auf die Idee mit dem Wandgemälde gekommen.“ Praktisch und nicht rein zufällig vielleicht. Eckart Keller ist nun mal Wandmaler.

„Ein bisschen kompliziert war es zwar, eine solche Aktion durchzusetzen, um Zustimmung ringen mussten wir schon: bei den lokalen Behörden und der UN-Verwaltung. Überhaupt war es schwer herauszufinden, wer zuständig war. Aber Lirak Celaj, der Intendant des Nationaltheaters, war sofort begeistert, und so habe ich mir über einen Entwurf Gedanken gemacht“, berichtet Keller. Wohlgemerkt: über einen Entwurf, nicht über eine kolonisatorengleiche Übermalung kosovo-albanischen Gemäuers. „An der Aktion beteiligt war insbesondere der Maler Bujar Lahu, der seinen Lebensunterhalt als Bühnenbildner am Nationaltheater verdient. Beim Konzept hat er mir allerdings den Vortritt gelassen“, erzählt Keller.

Aber was sollte nun auf der weithin sichtbaren Nationaltheater-Außenwand zu sehen sein? „Ich wollte regionale Motive zeigen – denn Identitätsfindung scheint dort derzeit das wichtigste Problem zu sein.“ Und so hat sich Keller auf die Suche begeben, hat in Museen, alten Schriften und an Gebäuden nach Motiven gesucht, die die Vielfalt dieser Region friedfertig verdeutlichen könnten. Vielfältig sind sie auch geworden, die übereinandergelegten Bordüren und Stäbe, die die blau grundierte Wand jetzt zieren: Treppenartige islamische Motive zeigt ein Band, illyrische Ornamente ein anderes; darin verschlungen finden sich Rautenmotive, die alten Teppichen entnommen sind. Die Nationalfarben Schwarz, Weiß und Rot sind ebenso vertreten wie bandkeramische Wellenlinien, die in die Urgründe der Kultur zurückweisen. Und dazwischen moderne, sich mit dem aktuellen Alltag auseinandersetzende Gedichte von Ali Todrimga und Agim Vimcka.

Warum aber diese elementaren Motive? Sind sie überhaupt noch deutbar und relevant für die Identitätsbildung der jetzt dort lebenden Menschen? „Es scheint so zu sein: Die Leute haben die Motive spontan wiedererkannt, die an Friesen, in Moscheen, Kirchen und in Trachten vorkommen und bestimmten Ethnien zugeordnet werden können“, sagt Keller. Politisch korrekte, dokumentarische Vollständigkeit habe er im Übrigen nicht angestrebt: „Ich habe die Elemente auch nach ästhetischen Gesichtspunkten angeordnet, wollte aber Motive, in denen sich die Menschen wiedererkennen. Und die einander durchdringen, sich über- und unterlagern, je nach Perspektive zusammen- oder auseinanderfallen wie ein Mikadospiel, so dass der Betrachter einen vielleicht neuen Blick auf die kulturelle Vielfalt seiner Region gewinnen kann.“ Und möglicherweise befreie eine solch distanzierte Perspektive auf lange Sicht von nationalistischen Unterscheidungen, befreie sich wie der Schatten eines tanzenden Menschen im Hintergrund des Gemäldes, ein „Schatten“, wie Keller ihn nennt, wissend, dass Schatten in der Mythologie oft für die Seele stehen.

300 Quadratmeter Gerüst und etliche Tonnen Farbe waren erforderlich, um das Gemälde fertigzustellen – Dinge, die Privatfirmen sponserten. Eine von ihnen übernahm auch den Transport der viel zu zahlreich gespendeten Gerüste, die im gesamten Kosovo weiterverwendet werden sollen. Den vierwöchigen Arbeitsaufenthalt im September finanzierte Keller aus Spenden. Eine Tatsache, „die unsere Partner in Pristina schwer fassen konnten: Ihnen ist im Zuge westlicher Wiederaufbauhilfe so viel versprochen worden, dass sie uns erst geglaubt haben, als wir zum zweiten Mal kamen“, erzählt er. Der Krieg habe sich tief hineingefressen in die Seelen der Menschen: „Teamarbeit schien für sie eine fremde Erfahrung, und sie haben genau beobachtet, wie wir innerhalb der Gruppe miteinander umgingen, erzählt Anne Vertein. „Es herrschte auch ein großes Misstrauen untereinander, das sich nur allmählich legte.“

„Wenn wir geredet haben, sollten wir schweigen, wenn wir schwiegen, wollten sie, dass wir reden“, sagt eins der Gedichte über die Okkupation durch die Serben. Nach solchen Erfahrungen ist es schwer, das Reden – und Malen – wieder zu erlernen: „Die Wandmaler im Kosovo sind – wie die dortige Kultur überhaupt – abgeschnitten von der internationalen Entwicklung, und deshalb wollen wir im Frühjahr 2001, als eins von mehreren Folgeprojekten, Wandmaler hierher einladen und in Workshops schulen, um ihnen den Blick für neue Ausdrucksmöglichkeiten zu öffnen“, sagt Keller.

Und vielleicht muss man damit schon im Kindesalter beginnen: an den Theaterwänden des Puppen- und Off-Theaters Dodona in Pristina zum Beispiel, das Keller im kommenden Frühjahr zusammen mit einheimischen Künstlern bemalen wird. „Das Theater liegt in einem Viertel, das stark zerstört war und dessen Gebäude überwiegend schlammig-braun sind – keine Augenweide. Und für die Kinder ist das Theater ein Freiraum, ein Ruhepol, wohin sie aus ihren auch psychisch oft zerrütteten Familien flüchten können“, sagt Anne Vertein; da können Porträts jener Puppen, mit denen auch in dem Theater gespielt wird, auf der Außenwand schon ein Lichtblick sein.

Doch beim Bemalen von Theatern belassen will es die Stadtteil-initiative im Schanzenviertel auf lange Sicht nicht: Für die Zukunft geplant ist unter anderem ein Frauenprojekt: „Es gibt ein Dorf, Kusamar, dem der Krieg fast nur Frauen und Kinder gelassen hat und in dem es so brutal zugegangen sein muss, dass die Mütter jegliche Pflege- und Schutzinstinkte verloren haben; die Kinder trauen sich deshalb von der Schule oft nicht nach Hause“, erzählt Anne Vertein. „Es wäre wichtig, mit den Müttern zu arbeiten und ihnen ein bisschen Lebensmut wiederzugeben. Es gibt Pläne des Universitätskrankenhauses Eppendorf, dort psychosoziale Ambulanzen aufzubauen. Vielleicht können wir auch diese Aktion malend ergänzen.“

Und wenn man bedenke, dass dies „nur ein Beispiel für tausendfach potenziertes Leid ist, es zum Beispiel in Ruanda passiert ist, kann einem ganz elend werden“, sagt Anne Vertein. Aber sie nimmt sich sofort zurück: Die Chance zur Tat besteht jetzt und hier.