Sesshaftigkeit, ein Privileg

■ Die Sehnsucht nach besserem Leben hat den Menschen schon immer Beine gemacht / Ein neues Buch zeigt Migration als historisches Phänomen in Bremen und umzu

an denkt ja immer, Mobilität und berufliche Flexibilität sind Erfindungen der letzten Jahrzehnte. Paul Boldt hätte das vermutlich anders gesehen. Vor einhundert Jahren schickte der damals 37-Jährige einen Brief an die Bremer Gewerbekammer, in dem er von seinem beruflichen Lebensweg berichtet.

„Nachdem ich mein Gesellenstück gemacht hatte, ging ich in die Fremde“, schreibt der Tischler aus Lübeck. Und zählt auf: Fürth, Nürnberg, Augsburg, München, St. Gallen, Mailand, Triest. Danach arbeitet Paul Boldt zweieinhalb Jahre als Zimmermann auf einem „oldenburgerischen Segelschiffe“. Und sieht das Mittelmeer, Afrika, Brasilien. Boldt baut Schiffe in Lübeck; in Bremen macht er sich selbstständig. 1890 reist der Handwerker nach New York und arbeitete „auf Pianoforte in dem Etablissement von Steinway & Sons, 15th Street“. Drei Jahre später kehrt er über Bremerhaven nach Deutschland zurück. Paul Boldt spricht mehrere Sprachen und hat Ahnung von „Tischlerei, Seefahrt, Maschinenbau etc.“. Jetzt will er, unterstützt von der Gewerbekammer, die Weltausstellung in Paris besuchen.

Menschen in Bewegung: Mit ihnen beschäftigt sich ein pralles sozialgeschichtliches Lese- und Studierbuch des Bremer Historikers Horst Rössler, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Förderverein deutsches Auswanderermuseum. Seine Arbeit über das 18. und 19. Jahrhundert zeigt, dass sich hinter der spröden Vokabel „Migration“ ein facettenreiches historisches Phänomen verbirgt. Titel des in der Edition Temmen erschienenen, mit zeitgenössischen Quellen ausgestatteten Werkes: „Hollandgänger, Sträflinge und Migranten. Bremen und Bremerhaven als Wanderungsraum“.

An beide Städte erinnert man sich in erster Linie als Transitstationen auf dem Weg in die Neue Welt. Doch Bremen war auch Magnet für eine Vielzahl von Zuwanderern: Kaufleute und Handlungsgehilfen, Handwerker und Gesellen, Fach- und Hilfsarbeiter, Tagelöhner und Dienstmädchen, „vagabundierendes“ Volk. Ihre Hoffnungen: Arbeit, gute Geschäfte, höhere Löhne, aber auch „Freiheiten, Abwechslung und bessere Heiratschancen“, wie Rössler schreibt. Durch steigende Geburtenraten und Wanderungsgewinne wuchs die Stadt Bremen von 35.400 (1812) auf 204.300 (1905) EinwohnerInnen.

Doch es gibt auch die andere Richtung: Bis in das beginnende 19. Jahrhundert hinein gingen Mitglieder der landarmen und besitzlosen Unterschichten aus den bremischen Dörfern und dem Umland im Frühjahr auf Wanderschaft – vor allem in die florierenden Niederlande, wie der Autor im Kapitel über die „Hollandgängerei“ beschreibt. Sie schufteten im Akkord als „Grasarbeiter“ auf den Wiesen, gruben Torf oder gingen im Eismeer auf Walfang – umgeben vom „bestialischen Gestank“ des in Fässer gefüllten, langsam verwesenden Walspecks.

Während die Walfänger-Migranten mit ihren Handharpunen aus heutiger Sicht einigermaßen exotisch erscheinen, kommt einem vieles in Rösslers Buch merkwürdig vertraut vor. Vermutlich, weil Mobilität „ein strukturelles Merkmal aller Gesellschaften“ ist, wie der Wissenschaftler formuliert. Das zeigt sich auch in den staatlichen Regelungen, mit denen unliebsame Fremde außen vor gehalten werden sollten: So mussten Einwanderer unter anderem ein ausreichendes Vermögen besitzen, um in Bremen das Bürgerrecht zu erwerben – 1850 etwa 300 Taler. Auch der Erwerb selbst kostete Geld – mindestens 40 Taler für das „kleine“, eingeschränkte Bürgerrecht (ein Handwerker verdiente zwischen 100 und 180 Taler im Jahr).

Überhaupt nicht willkomen waren in Bremen mittellose Auswanderer, die womöglich dem Staat zur Last hätten fallen können. Sie wurden polizeilich scharf kontrolliert; einen Aufenthaltsschein für die Zeit bis zur Abfahrt bekam nur, wer ausreichend Besitz nachweisen konnte. Ohne ein solches Dokument gab es keine Chance auf eine Unterkunft. Klammen Handwerksburschen, Armen, Bettlern oder Kriminellen drohte die Ausweisung samt Rückkehrverbot und Transport in die Heimat – oder gleich nach Amerika. Sesshaftigkeit, schreibt Autor Rössler in seinem Vorwort, sei zuallererst ein Privileg der Wohlhabenden gewesen.

Indes: Reisen, und das würde Tischler Boldt sicher bestätigen, hat auch immer etwas mit „Qualifikation“ zu tun. Besonders in Sachen Industrialisierung hieß „Der Lehrmeister England“, wie der Autor ein Kapitel seines Buches genannt hat. So gingen Handwerker, Kaufleute und Unternehmer auf die boomende Insel, um sich über die neusten Entwicklungen schlau zu machen; britische Facharbeiter kamen nach Deutschland, um hier mit ihrem Wissen Geld zu verdienen. „Transfer von Technologie und Know-how“ also. So gesehen ist Rösslers Buch Lesefutter für jeden, der sich für die aktuelle Einwanderungsdebatte interessiert. hase

Horst Rössler: „Hollandgänger, Sträflinge und Migranten“, jetzt erschienen in der Bremer Edition Temmen, 280 Seiten, gebunden, 39,90 Mark