Neonazis zieht es in den Westen

Mehr Straftaten, weniger Neonazis, mehr Altkader, weniger Gewaltdelikte: Jugendsenator Böger gibt Auskunft über Rechtsextremismus in Berlin. PDS kritisiert Finanzlage in den Bezirken, die zusätzliche Prävention unmöglich macht

Immer mehr Rechtsextreme zieht es nach Westberlin. Waren im ersten Halbjahr 1999 noch 70 Prozent der namentlich bekannten Neonazis mit ihrem Wohnsitz in den östlichen Bezirken gemeldet, waren es im ersten Halbjahr 2000 nur noch 57 Prozent. Die bevorzugten Wohngebiete im Westteil der Stadt sind Reinickendorf, Neukölln, Steglitz und Charlottenburg. Im Osten wohnen Neonazis am liebsten in Treptow, Lichtenberg, Pankow und Hellersdorf. Das geht aus einer Antwort von Jugendsenator Klaus Böger (SPD) auf eine kleine Anfrage der PDS-Abgeordneten Margrit Barth zum Rechtsextremismus bei Jugendlichen in Berlin hervor.

Die Stellungnahme des Jugendsenators gibt die neuesten Erkenntnisse des Senats – darunter auch von Innensenator Eckart Werthebach (CDU) – über die Berliner Neonazi-Szene wieder. Demnach hat die Zahl des rechtsextremistischen „Gesamtpotenzials“ mit 2.648 Personen im ersten Halbjahr 2000 gegenüber 2.785 1999 abgenommen. Unter dieser Personengruppe befinden sich, so Böger, 648 gewaltbereite Rechtsextremisten, 360 unorganisierte oder in Kameradschaften organisierte Neonazis sowie 1.640 Mitglieder rechtsextremistischer Parteien.

Die Zahl von Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund dagegen hat zugenommen. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ist sie von Januar bis einschließlich Mai 2000 von 96 auf 142 gestiegen. Gleichzeitig nahm die Zahl der jugendlichen Straftäter ab. Dies ist vor allem auf einen Zuwachs der so genannten Propagandadelikte zurückzuführen. Die Zahl der Gewalttaten, so die Jugendverwaltung, sei dagegen sowohl bei Jugendlichen als auch bei jungen Erwachsenen leicht rückläufig.

Dass nicht wie sonst üblich der Innensenator, sondern der Jugendsenator eine Anfrage zum Thema Rechtsextremismus beantwortet habe, erklärte Böger-Sprecher Thomas John gestern damit, dass im Jugendbereich der Schwerpunkt vor allem bei der Prävention liege. Dies betreffe auch die Finanzierung zahlreicher Projekte. John freute sich, dass im Haushalt für das nächste Jahr zusätzlich 1,2 Millionen Mark für bildungspolitische und sozialpolitische Projekte bereit gestellt wurden. Damit sei vor allem die Kofinanzierung von Projekten gesichert, die einen Teil ihrer Gelder aus den neuen Bundesprogrammen erhalten.

Auch die PDS-Jugendpolitikerin Margrit Barth ist froh über die zusätzlichen Gelder. Sie beklagt aber zugleich die Situation in den Bezirken. „Viele Projekte der freien Träger können aufgrund der Haushaltssituation in den Bezirksämtern nicht finanziert werden.“ Auch Jugendsenator Böger bedauert, dass die zentralen Projekte des einst mit 300 Millionen Mark gestarteten Programms „Jugend mit Zukunft“ wegen weiterer Kürzungen „zwar gesichert, aber nicht ausgebaut werden konnten.“

Derzeit arbeitet im Senat eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe an einer Umsetzung der Senatsvorlage zu „Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Diese Vorlage war als 10-Punkte-Programm am 12. September 2000 vom Senat verabschiedet worden. Schwerpunkte sind polizeiliche Maßnahmen gegen rechtsextreme Rädelsführer, schnellere Verfahren durch die Justiz sowie eine Verstärkung der Maßnahmen in der Prävention und gegen Internet-Propaganda.

Zumindest Letzteres hat sich offenbar als wenig praktikabel erwiesen. In seiner Antwort muss Böger einräumen, dass „wegen der meist geringen Einflussmöglichkeiten“ der Justiz auch im Internetbereich mehr Wert auf „präventive Aufklärung“ gelegt werden müsse. Böger sagte, dass sich die Zahl neonazistischer deutscher Homepages von 1996 bis 1999 verzehnfacht habe. UWE RADA