Erinnerung, hinter rostigen Toren versteckt

Geschichte ist, was erinnert wird: In dem Videoprojekt „Judengang“ übernehmen die Anwohner eines Begräbniswegs am Jüdischen Friedhof im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg die Rolle des Erzählers. So entsteht ein gemeinsamer Denkraum, der Platz lässt für unterschiedliche Identifikationen mit dem Ort

Der Judengang verhinderte, dassder Kaiser auf Begräbniszüge traf

von KATHRIN BETTINA MÜLLER

Die Unzugänglichkeit erhöht sein Geheimnis. Fast niemand, der die rostigen und mit Plakaten verklebten Eisentore in der Knaack- und der Metzer Straße im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg passiert, ahnt, was dahinter liegt: der Judengang, ein 400 Meter langer ehemaliger jüdischen Begräbnisweg. Er trennt den jüdischen Friedhof, der 1827 an der damaligen Pankower Chaussee angelegt wurde, von den Hinterhöfen der Jahrzehnte später errichteten Wohnhäuser in der Kollwitzstraße.

Zusammen mit dem Friedhof ist der teils grün verwilderte Gang als Gartendenkmal eingetragen und seit 1997 wieder Eigentum der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Zu DDR-Zeiten war er lange als volkseigene Liegenschaft ausgewiesen und konnte von den Anwohnern wie ein privater Hinterhof genutzt werden. Über diesen verborgenen Raum informiert das Kulturamt des Bezirks Prenzlauer Berg jetzt in einem Videoprojekt, das die Künstlerin Esther Shalev-Gerz zusammen mit über 50 Anwohnern erarbeitet hat.

Das ist ein ungewöhnliches Vorgehen, denn die Verantwortung für die Geschichte wird hier denen anvertraut, die zufällig an dieser historischen Adresse wohnen. Statt Denkmalschützer und Historiker, Bezirksverordnete oder Jurymitglieder, die üblicherweise als Experten der Erinnerung berufen werden, mit der Klärung der Rahmenbedingungen zu beauftragen, beginnt die Recherche vor Ort: Was wird erinnert, was wurde vergessen, was ist geblieben, was wurde verschüttet.

Für Esther Shalev-Gerz ist die Rekonstruktion der Vergangenheit nie unabhängig von ihrer Bedeutung für die Gegenwart zu betrachten. Das Abwesende und Verlorene erhält in ihren Projekten oft eine ebenso große Signifikanz wie das Offensichtliche.

Ester Shalev-Gerz, die heute in Paris lebt, hat lange zusammen mit Jochen Gerz an Denkmälern und Skulpturen im öffentlichen Raum gearbeitet, die der Auseinandersetzung mit der Geschichte galten. Sie nimmt dabei immer mehr die Rolle einer Moderatorin an, die Denkräume öffnet, anstatt sie mit Behauptungen zu besetzen.

So besteht die Ausstellung „Judengang. Die unendliche Bewegung der Erinnerung“, die bis 17. Dezember im Prenzlauer Berg Museum gezeigt wird, aus zwei Videoprojektionen. Der eine Film, ein Loop, erlaubt Einblicke in den verschlossenen Gang heute: mit Graffiti besprühte Tore, Gerümpel auf Höfen, Zäune entlang der Parzellen, idyllische Ecken, Grillplätze, Klettergerüste. Kaum eine Hausbreite lässt sich überblicken, geschweige denn der Gang als städtischer Raum erfassen. Erst von oben, aus den Fenstern der Wohnungen im vierten Stock, sieht man den Zusammenhang mit dem Friedhof. Teile der Friedhofsmauer bestehen aus den Rückseiten der Familiengräber, die im 19. Jahrhundert angelegt wurden.

Über 25.000 Gräber umfasst der jüdische Begräbnisplatz, und auf den Grabsteinen finden sich viele bekannte Namen, darunter der Maler Max Liebermann, der Komponist Giacomo Meyerbeer, die Verleger Leopold Ullstein und Albert Mosse. Auch viele Unternehmer, Bankiers, Mäzene und Finanziers der Politik Bismarcks sind hier bestattet. Da der Platz in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts ausgeschöpft war und später nur noch in den Familiengräbern Beisetzungen stattfanden, hat der stille Ort eine besondere Atmosphäre bewahrt.

Die schätzen auch die Anwohner sehr. Was sie über den Jüdischen Friedhof und den Gang wissen, erzählen sie in dem zweiten Video. Der Judengang, auch Judenstraße oder Kommunikation genannt, sollten die traurigen Begräbnisprozessionen, die aus dem Scheunenviertel kamen, von der Schönhauser Allee wegbringen. Denn dort sollten sie nicht mit dem Kaiser und dem Hofadel zusammenzutreffen. Ein älteres Ehepaar verlegt diese Verdrängung der jüdischen Beerdigungen aus dem öffentlichen Raum in die Zeit des Nationalsozialismus; andere hören die Geschichte durch das Projekt von Esther Shalev-Gerz zum ersten Mal.

Mit Überblendungen und Doppelbelichtungen knüpft sie ein Band zwischen den Anwohnern, lässt ihre privaten Räume miteinander verschmelzen. So entsteht aus der geschützten Intimität ein gemeinsamer Denkraum und aus den einzelnen Meinungen das Portrait einer Gruppe.

Für Andrea Gärtner, die als Leiterin des Kulturamtes Prenzlauer Berg das Projekt über drei Jahre lang unterstützt hat, ist damit schon mehr gewonnen als eine bloße Dokumentation unterschiedlicher Begehren an diesen Ort. Ihr kommt es darauf an, eine Polarisierung zu vermeiden zwischen den Wünschen nach ungestörter Fortsetzung der privaten Nutzung des abgeschirmten Ganges und seiner Gestaltung als öffentlicher Ort der Stadt und ihrer Geschichte. Sie hofft, dass sich die teils gegensätzlichen Positionen Einzelner in zukünftigen Gesprächen verschleifen werden. Noch ist die Fortsetzung des Stadtteilprojektes, das bisher auch von der Gesellschaft der behutsamen Stadterneuerung S.T.E.R.N., Sanierungsbeauftragter im Bezirk Prenzlauer Berg, unterstützt wurde, offen. Die Jüdische Gemeinde verhält sich abwartend. Schon während der Dreharbeiten für das Projekt, die über 18 Monate verteilt waren, verschwand ein Teil des Mülls aus den gewohnheitsmäßig verlängerten Höfen.

Das Videoprojekt von Esther Shalev-Gerz setzt ein Portrait der Erinnernden selbst an die Stelle eines Denkmals. Sie übersetzt den Weg in einen imaginären Denkraum, in dem viel Platz gelassen wird für die unterschiedlichsten Wünsche der Identifikation mit dem Ort. Der Angst vor einer Öffnung und der Zerstörung der Privatsphäre steht das Anliegen gegenüber, zumindest die visuelle Durchlässigkeit herzustellen und den Gang als städtebauliches Element wieder wahrnehmbar zu machen.

Kinder wollen Teiche und Picknickplätze, einer wünscht sich öffentliche Feste an jüdischen Feiertagen, viele halten informative Tafeln für sinnvoll; Touristenbusse fürchten fast alle, außer einer Boutiquenbesitzerin. Das Nebeneinander des Unvereinbaren spiegelt den „Niemandslandcharakter“, den der Gang heute hat, herausgefallen aus dem öffentlichen Raum. Er gehört nicht den Lebenden und nicht den Toten; gerade in dieser Unzugänglichkeit wird er zum Resonanzraum der Geschichte.

„Judengang, die unendliche Bewegung der Erinnerung“, im Prenzlauer Berg Museum, Prenzlauer Allee 227/228, Berlin-Prenzlauer Berg: mittwochs bis sonntags 11 - 18 Uhr. Bis 17. Dezember