Zur Not eben mit Elektroschocks

Das Off-Theater Festival Impulse verweist einmal mehr auf die Schwierigkeit der freien Szene, gegenüber dem zunehmend flexibleren Stadttheater eine eigene Position zu finden. Einig ist man vor allem darin, dass traditionelle Helden gegen mediengewandte Theaterleute ziemlich alt aussehen

von MORTEN KANSTEINER

Tragische Figuren haben es nicht leicht. Jason sieht schlecht aus, die kreidige Blässe seines Gesichts steht in ungesundem Kontrast zu den rot unterlaufenen Augen. Er sollte sich ein bisschen hinlegen, aber er muss Medea verraten. Einen Moment zögert er, doch sogleich stößt ihn der Regisseur an: „Jason, Text!“

Kein Wunder, dass Jason, Medea und die anderen antiken Gestalten ramponiert wirken: Sie haben ihr Schicksal schon so oft durchgestanden. Euripides hat sie zu einer Tragödie verarbeitet, Carl Theodor Dreyer beinahe zu einem Stummfilm. Er hat dann nur ein Manuskript hingekriegt, das wiederum einen anderen großen Dänen, Lars von Trier nämlich, vor gut zehn Jahren zu einem Fernsehfilm inspiriert hat. Nun ist dieser Medea-Stoff beim freien Theater gelandet. Mit „Medeää. 214 Bildbeschreibungen“, einer der interessantesten Produktionen des Off-Festivals Impulse, stellt die Truppe 400 ASA den Fernsehfilm oder vielmehr seine Entstehung auf die Bühne.

Ein kleines Aufnahmeteam ist um die Spielfläche versammelt. Der Regisseur erläutert die Einstellungen, die antiken Figuren müssen agieren, werden zur Not mit Elektroschocks dazu gezwungen. Sie sprechen zwar nur Fantasie-Dänisch, sind aber unerlässlich. Sie liefern die Geschichte und dienen als Kontrastmittel: Neben den sabbernden Gestalten wirken der Regisseur und sein Team so richtig smart. Die „Medeää“ lässt sich als satirische Selbstreflexion lesen, als Allegorie auf das freie Postdrama: Es hat gerne eine Tradition, die es malträtieren kann, sei es ein konkreter Stoff oder die Vorstellung vom Theater als moralischer Anstalt.

Sehr anschaulich praktiziert das auch der „Parzival“, den Sandra Strunz in der Hamburger Kampnagel-Fabrik uraufgeführt hat. Die Produktion verlässt sich ganz auf die Komik, die aus der Konfrontation von Mittelalter und Mediengegenwart entsteht. Ritter gegen DJ. König Arthus’ Worten folgt Soap-Lachen. Und wenn Parzival schließlich am Ziel ist, spricht er Dankesworte in ein Mikro, als hätte er gerade den Bundesfilmpreis bekommen. Im Ganzen bleiben ein paar gute Pointen und wieder die simple Einsicht, dass der traditionelle Held im Vergleich zu den mediengewandten Theaterleuten ziemlich alt aussieht.

Das Problem ist nur, dass die Tradition auch nicht mehr das ist, was sie mal war. Jason sieht so aus, als bräche er bald zusammen, doch eine Einlieferung ins Stadttheater würde gar nichts nützen: Dort kennt man sich zwar mit Traditionspflege aus, aber hat gar keine Lust mehr, die alten Helden in Form zu halten. Die großen Bühnen dienen dem freien Theater kaum noch als Widerpart – schon deshalb, weil an beiden Orten immer öfter dieselben Künstler arbeiten. Nicht zuletzt Impulse, ein Festival ausgewählter Off-Produktionen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, das jährlich an Rhein und Ruhr veranstaltet wird, stiftet Kontakte zwischen den einstigen Antipoden.

In den Programmheften des Bochumer Schauspielhauses finden sich mittlerweile diverse Namen, die einem auch auf dem Festival begegnen. Niklaus Helbling zum Beispiel, Dramaturg bei „Parzival“, hat gleich am Anfang der Spielzeit am Schauspiel inszeniert. Samuel Schwarz und Lukas Bärfuss, Regisseur und Autor der „Medeää“, bereiten für Januar eine Uraufführung am Haus vor. Das Stadttheater profitiert von solchen Projekten, die freie Szene hingegen leidet ein wenig. Bei einer der festivalbegleitenden Diskussionen „Nachdenken über das Theater“, die Amelie Deuflhard von den Berliner Sophiensaelen, Niels Ewerbeck vom Forum Freies Theater Düsseldorf, Anna Thier vom dietheater Wien, Peter-Jakob Kelting vom Zürcher Theater an der Winkelwiese und Kathrin Tiedemann, ab nächster Spielzeit bei Kampnagel, an einen Tisch brachte, wurde es formuliert: Die Off-Produzenten haben Schwierigkeit, noch eine eigene Position zu finden.

Besonders hart getroffen hat es Peter-Jakob Kelting, der sich plötzlich dem wendigen Schauspielhaus unter Christoph Marthaler gegenüber sieht: „Die machen dasselbe, nur mit mehr Geld.“ Wie ernst es um die Theatertradition in Zürich steht, lässt sich daran ablesen, dass Marthaler selbst ihr vergangene Woche eine Herzmassage verabreicht hat: Er las den Herzog von Ferrara in einer konzertanten Aufführung von „Torquato Tasso“.

Wenn der Kanon schwächelt, ist es beruhigend, dass freie Arbeiten auch mit statt gegen ihn gelingen können. Die Laborlavache zum Beispiel geht sehr liebevoll mit Tschechow um. In „Sitzen in Hamburg“, ihrer Adaption der „Drei Schwestern“, gibt es tatsächlich drei Schwestern, die an Sehnsucht leiden. Die Sprache darf bedeuten statt nur fließen, die Schauspielerinnen sind mehr Charaktere als Körper.

Ebenfalls eingeladen waren das Teatron Theater aus Arnsberg und das Theater Schauplatz aus Biel. Aus Berlin kamen das TheaterschaffT, das Theater des Lachens, das Vereinigte Gummitierensemble und Nico and the Navigators mit ihrer Sophiensaele-Produktion „Eggs on Earth“. Die Regisseurin Nicola Hümpel hat unter anderem am Bauhaus in Dessau studiert, und in der Tat grüßt die klassische Avantgarde. Das Bühnenbild von Oliver Proske ist abstrakt, die konzentrierten Bewegungen der Akteure sind ebenso wichtig wie der fragmentarische Text. Robert Wilson ist nicht weit. Nur arbeiten Nico and Navigators mit mehr Humor – und sehr viel weniger Geld.

Zumindest auf diese Abgrenzung kann man sich verlassen: Die freie Szene hat die kleineren Budgets. Und das reicht tiefer, als man denkt. „Eggs on Earth“ skizziert Ausschlussmechanismen von der unerbittlichen Vorzimmerdame bis zum Zwang zum erfüllten Lebenslauf. „Sitzen in Hamburg“ berichtet von der Hoffnung, woanders ein besseres Leben zu finden. Wer weiß, wie diese Projekte ausgesehen hätten, wenn die beiden Truppen einen sicheren Platz in den Armen des Stadttheaters hätten. Dasselbe mit weniger Geld zu machen, ist nicht unbedingt dasselbe.