Gefühle im gepackten Koffer

„Die Liebe der Lena Goldnadel“: Die Schriftstellerin Erica Fischer hat zehn jüdische Geschichten gesammelt. Zum Beispiel die von Ruta, die als Baby im Litauer Ghetto in einer Schachtel mit Luftlöchern mucksmäuschenstill unterm Bett liegen musste. Aber nicht alle Geschichten sind so traurig

Möge die Macht der Liebe stärker sein als das Grauen des Holocaust! Mit dieser ebenso romantischen wie naiven Hoffnung nimmt man die jüdischen Liebesgeschichten zur Hand, die die Journalistin Erica Fischer in der halben Welt zusammengesammelt hat. Aber: Egal ob in Istanbul, New York oder Sarajevo, egal ob unter Hetero- oder Homosexuellen, egal in welcher Generation, ob bei den Überlebenden oder ihren Kindern und Kindeskindern – Auschwitz ist immer präsent.

Dennoch oder gerade deshalb gehen die zehn Geschichten, die die Autorin von „Aimée & Jaguar“ in ihrem neuen Buch zusammengetragen hat, tief unter die Haut. Geschichten, die aus unterschiedlicher Perspektive erzählt werden, mal im schlichten O-Ton, mal mit Ausschmückungen der Autorin. Einfühlsam geschildert sind sie alle und unbedingt lesenswert.

Schon die erste Geschichte zerstört die Illusion, dass das Urvertrauen und damit die Liebesfähigkeit eines Menschen unversehrt bleiben könnte, wenn er oder sie den Naziterror überlebt. Ruta Kogan war von der Sekunde ihrer Geburt eine Gefahr für ihre Familie, die sich 1943 in einem Keller eines Litauer Ghettos versteckt hielt. Das Baby lag in einer Schachtel mit Luftlöchern unter einem Bett und war mucksmäuschenstill – monatelang, als ob es alles gewusst hätte. Als die Liquidierung des Ghettos drohte, warf der Vater seine Tochter in ein Bündel gewickelt auf die „arische“ Seite. Ruta wuchs bei einer christlichen Pflegefamilie auf, musste das Jüdische in ihr verleugnen, kehrte nach Kriegsende zum Vater zurück, musste das Christliche verleugnen. Oberflächlich funktionierte sie, aber ein Teil von ihr war innerlich erkaltet, gefühllos. Sie bekam Allergien, Hautausschläge, Atemnot.

Mit 23 lernte sie ihren jüdischen Mann David kennen. Wenn ihre Tochter schrie, war sie ratlos, sie kam nicht auf die Idee, sie auf den Arm zu nehmen. Auch ihr Mann hatte gelernt, seine Gefühle mit Härte zu bekämpfen. Nachdem sie aus der Sowjetunion nach Australien ausgewandert waren, beteiligte sich Ruta in Melbourne an einer Selbsthilfegruppe von „Hidden Children“. „Sag mal, Ruta“, herrschte ihr Gatte sie an, „was suchst du dort bei diesen alten Leuten, die zusammenkommen, um sich gegenseitig was vorzuheulen?“ Sie stürzte sich auf ihn: „Du Drecksau, sag das nicht noch einmal! Ich bring dich um! Diese Treffen sind mir das Wichtigste im Leben. Ich bin jetzt nicht mehr allein.“ Das war das Ende ihrer Ehe.

Nicht alle Geschichten im Buch sind so traurig. Die von Bilge und Selhan zum Beispiel klingt fast wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Der jüdisch-türkische Student Bilge gerät in Istanbul aus Versehen in ein Telefongespräch eines Bekannten mit einer jungen Frau namens Selhan. Er ist fasziniert von ihrer warmen Stimme. Nach anfänglicher Abwehr Selhans telefonieren sie immer öfter miteinander, schließlich vereinbaren sie ein Treffen. Sie sei aber dick und hässlich, warnt ihn Selhan. Macht nichts, sagt Bilge. Sie hole ihn vom Bus ab, verspricht sie. „Bleib einfach stehen und schau dich nach der dicksten und hässlichsten Frau um.“ Wer kommt, ist ein zierliches Mädchen mit blondem Haar, eine Schönheit.

Ein Jude und eine Muslimin? Bilges Eltern wehren sich mit Händen und Füßen gegen eine Hochzeit. Am Ende findet sie aber doch statt. „Unser ganzes Leben haben wir mit gepackten Koffern gelebt“, ruft die Mutter verzweifelt. „Was ist, wenn die Islamisten auch hier an die Macht kommen? In unserem Ausweis steht die Religion, wie unter Hitler.“ UTE SCHEUB

Erica Fischer: „Die Liebe der Lena Goldnadel“. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2000, 287 Seiten, 39,80 DM