Flucht ist das Ziel

Die Stabi ist ein sinnlicher Arbeitsplatz. Die Seele geht in der Cafeteria spazieren. Manchen gilt sie als der größte Heiratsmarkt der Stadt

Von KIRSTEN KÜPPERS

Das Leben im universitären Betrieb der Stadt ist traurig. Anerkennung fur Studenten, Assistenten, Stipendiaten und Doktoranden gibt es wenig. Weggesperrt in kahlen Raumen wurstelt man sich unterbezahlt durch die Wissenschaft. Die Ergebnisse verstauben nicht selten in den Schubladen der Dozenten, die Emotionen sterben irgendwo zwischen Seminar und Kopierer. Gefühl ist nutzlos in diesem akademischen Kosmos. Und wer jemals auf einer Semesterparty des mathematischen Instituts gewesen ist, weiß, dass auch diese Veranstaltungen alles spenden außer Trost.

Sinnlicher ist die Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, kurz „Stabi“. Das 1968 von Hans Scharoun entworfene Gebäude am Kulturforum an der Potsdamer Straße diente schon Wim Wenders in seinem Film „Himmel über Berlin“ als Metapher engelsgleicher Leichtigkeit. Die Räume sind lichtdurchflutet, die „hängenden Lesegärten“ berühmt, der Teppichboden ist grün.

Dennoch bleibt die Stabi ein funktionaler Arbeitsplatz für Berlins akademischen Nachwuchs. Mit annähernd 10 Millionen Bänden ist sie die größte Bibliothek Deutschlands für internationale wissenschaftliche Literatur. Laut einem Gutachten wird jeder der 650 Leseplätze Tag für Tag von dreieinhalb Besuchern frequentiert. Die Nutzer schreiben hier Semesterarbeiten, lernen für Prüfungen und verfassen Dissertationen. Denn in den Lesesalen der Stabi funktionieren die Mikrofiche-Kataloge besser als in der Institutsbibliothek. Es ist stiller als zu Hause. Obendrein verleitet kein Wohnungsgerät zu unakademischen Übersprungshandlungen. Das macht die Plätze im Lesesaal begehrt. Ist ein Platz einmal errungen, ist man Mitglied im Verein. Die Seele kann in der Cafeteria entspannen gehen. Kaum einer der 3.000 bis 3.500 täglichen Bibliotheksbesucher, der die Kantine nicht für Pausen nutzt.

Die Selbstbedienungstheke bietet Filterkaffee und säuerliche Gulaschgerichte. Eine Portion Zwiebelmettwurst kostet 1,60 Mark. Die Dessertschälchen ziert eine feste Sahnehaube. Das sind keine Feinschmeckerprodukte und auch die Luft im Raum ist stickig. Doch darauf kommt es nicht an. Flucht ist das Ziel. Am Bistrotisch entkommt der einzelne kurzzeitig der Einsamkeit seines Studiums. Gemeinschaft zu den anderen stellt sich durch lange Blicke her. Eine Magisterarbeit schreibt sich nicht an einem Tag. Regelmäßige Stabi-Nutzer kennen sich vom Sehen. So ist die Stabi-Cafeteria ein Ort wiederkehrender Nähe. Manche nennen sie sogar den „größten Heiratsmarkt Berlins“. Eine Kunsthistorikerin spricht von „Anmachzentrale“. Tatsächlich wird hier interdisziplinär geflirtet, Kommilitoninnen unterhalten sich über die Nachrichten ihrer Liebhaber auf dem Anrufbeantworter, jedes neue Gesicht wird dankbar taxiert. Manchmal wartet nach dem Kaffeetrinken ein Zettel mit einer Telefonnummer auf dem Arbeitsplatz im Lesesaal. Ein Gutachten auswärtiger Bibliotheksdirektoren hat 1997 der Stabi attestiert: „Ein großer Teil der Nutzung hat mehr den Charakter eines Hauses der Begegnung als den einer Bibliotheksnutzung im engeren Sinn.“

Doch auch jenseits von Annäherungsinteressen zeigt sich der Nachwuchswissenschaftler in der Stabi-Cafeteria privat: Germanisten tauschen geschwätzig mitgebrachte Butterbrote. Gurkenschnitze in Tupperdosen verraten den hohen Organisationsgrad von Medizinstudenten. Ein eleganter Jurist packt unverhofft eine Thermoskanne aus. Allerdings klappt das Abschalten vom Wissenschaftsbetrieb nicht immer. Am Nachbartisch fragt sich ein Grüppchen gegenseitig Aminosäuren ab. Hinten dreht sich das Gespräch um Mittelhochschwedisch. Viele gucken mit leeren Gesichtern aus dem Panoramafenster auf die Neubauten am Potsdamer Platz. Die Sehnsucht nach Ausbrechen ist groß.

Allen Ablenkungsmanövern zum Trotz hängt jedoch eine nervöse Frage unnachgiebig im Raum: Wie lange darf eine Zwischenmahlzeit in der Kantine dauern? Raucher rechnen Zigarettenlängen hinzu. Der Blick auf die Uhr schickt einen längst wieder raus in den Lesesaal.

Nicht jeder hält diesen sensiblen Mikrokosmos der Stabi-Gemeinde dauerhaft aus. Manche gehen mittags beim Asia-Imbiss fremd. Andere kehren stündlich in die Cafeteria zurück.