Der Kanon ist tot, es lebe das Leitmedium

Was wir wissen müssen (Teil 5): Der bürgerliche Bildungskanon war an seine Medien gebunden, die nach der Marke A bis Z funktionierten. Die digitale Welt aber ist nicht etwa chronologisch, ihr Sinn findet sich auf Informationsinseln

Ein Bildungskanon ist immer auch ein Kanon der Medien, über die er transportiert wird. Denn ein Kanon gibt einerseits jene verbindlichen Inhalte vor, die über die Zugehörigkeit zu bildungsbürgerlichen Kreisen entscheiden. Andererseits ist ein Kanon an die Medien gebunden, in denen er zu finden ist – das heißt, er enthält Benutzungsregeln für ihren Gebrauch. Zu den institutionalisierten Säulen des Bildungskanons zählen Museen, Theater und Bibliotheken. Ihre Medien sind Bücher, Lexika, Fachzeitschriften und Zeitungsfeuilletons. Ihre Benutzungsregel ist die Chronologie: Sie sind von A bis Z durchkonzipiert, werden im Idealfall von der ersten bis zur letzten Seite, vom ersten bis zum letzten Akt konsumiert.

Seit die digitalen und interaktiven Medien Wirtschaft und Gesellschaft erobern, hat erwartungsgemäß auch eine Kanondebatte eingesetzt. Sie rückt die Frage nach den wandlungsbedingten Risiken und Chancen der digitalen Revolution in den Mittelpunkt. Diese Debatte ist richtig und falsch zugleich: Denn es geht dabei nicht mehr nur um die Liste der maßgeblichen Bücher oder der mustergültigen Autoren. Es geht um ein völlig neues Leitmedium.

Je krampfhafter versucht wird, einen klassischen Bildungskanon oder die dazugehörigen Sekundärtugenden zu reformulieren, desto deutlicher wird, dass ein derartiges Vorhaben unter den gegenwärtigen Bedingungen unmöglich geworden ist. Und wie immer in derartigen Situationen beginnt auch hier ein Schaukampf: Apokalyptische Protagonisten sehen mit der neuen Medientechnologie das abendländischen Denken untergehen; affirmative Technikeuphoriker preisen die Chancen für Ökonomie, Demokratie und Bildung.

Wissen lässt sich als die Fähigkeit eines Menschen begreifen, selbst etwas in Gang zu setzen. Das bedeutet für das digitale Zeitalter: Nicht die potenziell erreichbaren Informationen, sondern die Kompetenzen der Auswahl, Bewertung und zweckorientierten Nutzung sind die entscheidenden Schlüsselqualifikationen für den Wissenserwerb. Nur wer neben den technischen Voraussetzungen über diese inhaltlichen Kompetenzen verfügt, ist in der Lage, der so genannten Informationsflut zu begegnen. Nur der kann gewonnene Erkenntnisse in soziales und politisches Handeln einfließen lassen. Nur der kann als „gut informierter Bürger“ eine aktive Rolle in der heutigen Gesellschaft wahrnehmen. Die so gern attestierte „digitale Spaltung“ der Gesellschaft tritt dabei nicht nur als eine materielle Frage des Zugangs auf, sondern vor allem als eine kulturelle Frage der adäquaten Aneignung neuer Medien durch ihre Nutzer. Daher entscheiden soziale Herkunft, Bildungsgrad, Geschlecht und Alter über Informationsarmut oder -reichtum.

Was sind die neuen Kulturtechniken in einer nichtlinearen High-Tech-Kultur? Dazu gehört, zielsicher von Informationsinsel zu Informationsinsel zu springen – um dabei die Konvergenz von Medien, Inhalten und eigenen Interessen herzustellen. Das kann nur jeder für sich selbst. Nur wer flexibel und zugleich zielsicher ist, kann Orientierung und Kontinuität aus dem Chaos der Informationen gewinnen. Allein auf die inhaltliche Wertung eines nur noch schemenhaft erkennbaren Bildungskanons zu vertrauen reicht dabei nicht mehr aus. Und hier liegt die Chance eines konvergenten Bildungskanons: „Alte“ Inhalte und Maßstäbe mit „neuen“ Medien und Aneignungsweisen zu verbinden – um sie wechselseitig zu überprüfen. Gemeinsame Werte und wichtige Wissensbestände einer Gesellschaft lassen sich nicht aus sich selbst oder ihrer Tradition heraus begründen. Sie müssen ihre Relevanz stets neu legitimieren. EIKE HEBECKER