Im Club der roten Lichter

Das altehrwürdige Evangelisch Stiftische Gymnasium in Gütersloh hat alle Schüler einiger Klassen mit Laptops ausgestattet, um den digitalen Unterricht zu erkunden. Antennen wachsen den Schülern noch nicht. Aber die tragbaren PCs verändern viel – zum Beispiel das Verhältnis von Mädchen und Jungen

von YASSIN MUSHARBASH

Wie eine Burg wirkt der Backsteinbau des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums. Das Traditionsgymnasium am Rande der Gütersloher Innenstadt wurde als Missionarsschule gegründet. Wüsste man es nicht besser, würde man hinter den Mauern noch heute eher das Knirschen von Kreide auf Schiefertafeln erwarten als das leise Surren Dutzender Laptops. Aber jetzt heißt es hier: Internet statt Internat.

Dietmar Schade unterrichtet Deutsch in der 9 b der modernsten Schule Deutschlands. Den Schülern wachsen keine Antennen auf der Stirn, und auch das Thema ist ganz normal: eine Kurzgeschichte von Borchert wird analysiert. Was Schade an die Tafel schreibt, wird abgetippt. Jeder Monitor sieht anders aus: die Jungen legen mehr Wert auf das Design ihres virtuellen Schulheftes, sie hantieren mit besonderen Schriftarten. Laura schickt gerade eine E-Mail an Linda. Vielleicht geht die elektronische Post auch an jemanden ganz anderes – für Dietmar Schade ist das schwerer zu kontrollieren, als wenn Zettelchen weitergegeben würden.

Auch in Gütersloh sind Schüler nur Schüler und Lehrer eben Lehrer. Sicher, an der Wand hängt eine Liste mit „Laptop-Regeln“. Aber gleich daneben sind die Kommaregeln aufgeführt. Vielleicht Absicht – „Unsere Kinder lernen Computer statt Kommaregeln!“, fürchteten viele Eltern, als das Evangelisch Stiftische (ESG) den computergestützten Unterricht nicht in ein neues Fach verbannte, sondern gezielt in die Kernfächer Deutsch, Englisch und Mathematik integrierte. Mittlerweile haben die Schüler und Dietmar Schade die Struktur eines multimedialen Dialogs herausgearbeitet.

„Was für Möglichkeit gibt es, das Hin und Her des Gesprächsverlaufs zu visualisieren?“, fragt Schade seine Klasse. Linda schlägt eine tabellarische Darstellung vor. Simon meint, man solle mit farbigen Markierungen arbeiten. Am Ende einigt man sich darauf, das Programm „Powerpoint“ zu benutzen. Und dazu braucht Schade erst mal – die gute alte Tafel, um die einzelnen Lernschritte anzumalen. Während er einen Fernseher holt, an den man zu Präsentationszwecken die Bildschirme der Laptops anschließen kann, beginnen die Schüler mit dem Ausfüllen der Powerpoint-Vorlagen. „Möglichst keine Töne verwenden, nur Farben!“

„Wer’s weiß, der hilft!“, erklärt Linda, warum die Jungen und Mädchen immer wieder auf fremden Monitoren kiebitzen. „Wir sind eine lernende Schule!“, erklärt Michael Kerber dasselbe offiziös. Der 53-jährige Deutsch- und Sozialkundelehrer ist gewissermaßen der Multimediabeauftragte des ESG. Von „20-Minuten-Fortbildungsmodulen“ referiert er und vom „Bedarfs-Tutoring“, bei dem sich Schüler, Lehrer und Eltern gegenseitig helfen. Wer’s weiß, der hilft.

Uninteressierte Kollegen

Der Medienkoordinator Michael Kerber ist natürlich begeistert von seinem Laptop-Projekt. „Das entscheidende Argument ist, dass wir den Unterricht verändern, das Verhältnis von Lehrern und Schülern, dass wir die Teamfähigkeit steigern“, nennt er die didaktischen Neuheiten, die alle auf prinzipieller Freiwilligkeit beruhen. Selbst die Lehrer, die am ESG Laptop-Klassen unterrichten, tun dies freiwillig. Und die anderen? Kann man ein ganzes Kollegium modernisieren? „Etwa zehn Prozent der Kollegen sind nicht interessiert“, räumt Kerber ein, „und es ist das Beste, sie in Ruhe zu lassen.“

Im ESG wird es nicht gern gesehen, das alte Gymnasium auf die neue Technologie zu reduzieren: „Wir haben über 30 Arbeitsgruppen zu allen möglichen Themen außer Multimedia“, sagt ein Lehrer. Auf der Homepage der Bertelsmann-Stiftung, die das Projekt am Konzernsitz großzügig fördert, liest sich das anders: Das ESG segelt dort unter dem „Leitbild Medienschule“. Unterdessen werden die Lehrer nicht müde, die pädagogische Unabhängigkeit der Schule von der Stiftung zu betonen: Die Pauker haben keine vorgefertigten Laptop-Lehrkonzepte in ihren Schubladen. Sie lernen erst in der Praxis, gemeinsam mit ihren Schülern. Dietmar Schade etwa hat die Erfahrung gemacht, dass seine Laptop-Kids motivierter sind. „Die Arbeit an den Rechnern spricht andere Sinne als nur den Lesesinn an. Das erleichtert das Lernen.“

In der 7. Klasse findet sich kein Geo-Dreieck mehr, obwohl gerade Geometrie dran ist. Mit einer Software namens „Euklid“ zaubern die Schüler die Dreiecke auf ihre Monitore. Auf Mausklick spuckt der Rechner Streckenlängen und Winkel aus. Wenn Lehrerin Anke Horn das Wort an die Klasse richtet, werden zwei Dutzend Monitore heruntergeklappt. Eine der neuen Regeln. Ein Mädchen, das kaum über ihren tragbaren Computer schauen kann, erklärt unterdessen einem Jungen, wie er das Programm bedienen muss. „Und der dachte am Anfang, er wäre ein ganz großer Computer-Crack!“, schmunzelt die Lehrerin.

Frontalunterricht ade

Sind Laptops vielleicht die Zauberwaffe gegen die oft beklagte Benachteiligung von Mädchen in den naturwissenschaftlichen Fächern? Dafür kann das ESG noch keine fundierten Erkenntnisse vorweisen. Trotz der externen Evaluation aus Berlin, sind die Lehrer bei solchen Fragen auf ihr Gespür angewiesen.

„Es gelingt tatsächlich, die Schere zwischen den Computer-Erfahrenen, den Zurückhaltenden und den Mädchen zu schließen“, behauptet Schulleiter Ulrich Engelen in einer Fachzeitschrift. Indizien dafür gibt es: Zu den von Schülern freiwillig angebotenen Fortbildungen für Eltern haben sich dreimal mehr Mädchen bereit gefunden.

Auch in der Siebten von Frau Horn gibt es nur Gruppenarbeitstische. Zusammen mit Dietmar Schade läuft Anke Horn von einem Team zum nächsten. Aber sie beobachten nur. Frontalunterricht gibt es kaum.

Das ESG ist nicht nur wegen des Laptop-Projekts und der Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung eine besondere Schule. Obwohl es sich um ein öffentliches Gymnasium handelt, hat sich ein ursprünglich preußisch-königliches Privileg über die Zeit retten können: Träger der Schule ist nicht das Land Nordrhein-Westfalen, sondern ein Kuratorium, das „aus herausgehobenen Bürgern der Stadt besteht“. Angereichert mit Bauexperten, Proporz-Mitgliedern der Parteien und Kirchen, sowie einem Lehrer des ESG.

Dieses Kuratorium übt die Personalhoheit aus. „Das ist ein gutes Mittel der Schulentwicklung“, freut sich Medien-Koordinator Kerber. Wie kann eine Schule mit so traumhaften Startbedingungen ein Modell sein? Immerhin hat die Bertelsmann-Stiftung 18 Millionen Mark allein in diese Schule investiert, hat einen Neubau finanziert, ein Multimedia-Klassenzimmer und einiges mehr. „Eigentlich sollte es schon heute an jeder Schule aussehen wie bei uns“, meint Michael Kerber und weiß: „Wir werden natürlich auf absehbare Zeit von der Industrie abhängig sein“.

Anfängliche Ängste, dass die Schüler vor lauter Tippen die Handschrift verlernen oder quadratische Augen bekommen, haben sich am ESG nicht bestätigt. Schulleiter Engelen bescheinigt seinen Schützlingen denn auch einen verantwortungsvollen Umgang mit ihren Geräten. „Eigentlich ist das für uns alles schon ganz schön normal geworden“, sagt Linda aus der 9 b, die mit dem gewissen Gespür fürs Knappe: „Aber im Moment fühlen wir uns ein bisschen laptop-überbelastet.“