Gauleiter als verlorener Sohn

■ Neu im Kino: „Lost Sons“ von Fredrik von Krusenstjerna

Der Vater eines Freundes von mir ist ein renommierter, spieltechnisch brillanter Kirchenorganist. Der rebellische Sohn wollte nie so werden wie sein Vater und wurde – ein renommierter, spieltechnisch brillanter Jazzpianist. Die gleiche Geschichte erzählt der schwedische Dokumentarfilmer Fredrik von Krusenstjerna in seinem neuen Film „Lost Sons“. Dabei war er eigentlich nach Berlin gefahren, um über die wachsende Neonazi-Szene in Deutschland zu berichten. Dort stieß er schnell auf den ehemaligen Star dieser Szene, den Berliner „Gauleiter“ Ingo Hasselbach, der sich 1993 medienwirksam von der rechten Szene distanziert hatte. Dass von Krusenstjerna sich bei seinem Film auf diesen eloquenten, attraktiven und offenherzigen Darling der Medien konzentrierte, war alles andere als originell. Spannend wurde seine Recherche erst, als er erfuhr, dass Hasselbachs leiblicher Vater mit der gleichen Intensität im entgegengesetzten politischen Lager gearbeitet hatte: Hans Canjé war als überzeugter Antifaschist und Kommunist in den frühen 60er Jahren in die DDR gegangen und machte dort Karriere als Journalist. Bis zum Schluss der Dreharbeiten weigerte er sich, seinen verlorenen Sohn zu treffen oder über ihn zu sprechen. Ein Jahr lang begleitete der Filmemacher die beiden, so dass „Lost Sons“ eher ein Doppel- oder Familienporträt als ein Film über die neue Rechte wurde.

Die Pointe des Films liegt darin, dass Vater und Sohn sich erstaunlich ähnlich sind. Das beginnt mit den Lebensläufen: Beide waren im Kinderheim, beide haben Maurer gelernt, beide waren aus politischen Gründen im Gefängnis (der eine als Kommunist im Westen, der andere als Punk in Bautzen), beide verdienen heute ihr Geld als Journalisten. „Lost Sons“ ist eine große Parallelmontage, und manchmal weiß man nicht, ob man sich gerade beim Vater oder beim Sohn befindet. So zeigt die Kamera etwa beide bei der Arbeit an der Schreibmaschine, und der Schwenk über ein Bücherregal mit Werken über den Kommunismus suggeriert, man sei bei Hans Canjé. Überrascht stellt man fest, dass auch sein Sohn diese Bücher im Regal stehen hat.

In solchen Momenten ist „Lost Sons“ auch filmisch auf der Höhe seines Themas, aber oft bebildert von Krusenstjerna allzu beliebig. Dazu lässt er Vater und Sohn ein wenig zu geschwätzig reden. Mit 68 Minuten wirkt der Film so immer noch recht lang. Man wünscht sich auch, der Regisseur hätte Ingo Hasselbach etwas mehr auf den Zahn gefühlt: So deutet etwa der mit Hasselbach seit langem bekannte Journalist Burkhard Schröder an, dieser habe sich in seinem Innersten bei der Wandlung vom Saulus zum Paulus kaum verändert. Wenn man sieht, wie souverän er mit den Medien umgeht, kommt einem der Verdacht, Ingo Hasselbach habe nur jeweils mit einem präzisen Gefühl für das Timing die richtigen Karriereschritte getan. Wenn man beide Männer schreiben sieht, wird nicht thematisiert, dass der eine für seine kleine Zeitschrift „Antifa“ arbeitet und dabei wahrscheinlich noch draufzahlt, während der andere ein Bestsellerautor ist: Seine Autobiographie „Führer-Ex“ war in den USA ein riesiger Verkaufserfolg. Von Krusenstjerna gelingt es in den Gesprächen, aus beiden sehr persönliche Details herauszukitzeln. Die ebenso interessante Frage, wie ihre Kontostände sind, wird in „Lost Sons“ aber nicht beantwortet. So kann durchaus der prekäre Eindruck entstehen, dass beide zwar sehr ähnliche Leben führen, Hans Canjé aber als Verlierer und Ingo Hasselbach als Gewinner. Für ihn hat sich der Umweg über die Neonazi-Szene zum gesellschaftlichen Aufstieg letztlich gelohnt. Eine zynische Konsequenz, der von Krusenstjerna wenig entgegensetzen kann.

Wilfried Hippen

„Lost Sons“ läuft heute, morgen und am Sonntag jeweils um 18.30 Uhr im Kino 46