Es brennt das ZNS

Körperkämpfer unter sich: Das Orphtheater wird zehn Jahre alt und spielt zum Jubiläum Brechts „Baal“ unter der Regie von Susanne Truckenbrodt

Bloß kein Alltagsblabla oder Smalltalk- und Trendtheater!

von REGINE BRUCKMANN

In Woyzeck sieht sie das unschuldige Kind, in Hannibal eine verglühende Leuchtkugel, in Medea die konsequente Mutter, in Baal die lebensgierige Bestie – Helden, die Susanne Truckenbrodt in Fleisch und Form bringt, müssen wilde Wesen sein, alles fordernd und auch mordend zur Not: „Ich behaupte: Das da draußen ist kein Leben“. Ihr Kinn macht eine wegwerfende Bewegung zum Fenster, dahinter liegt grau der Hof, die Straße, die Häuser, „das ist viel zu gezähmt, zu arrangiert, alles ist abgedeckt.“

Die Schauspielerin und Regisseurin Truckenbrodt trägt die Haare lang und schwarz, die Augen dunkel umschattet. Das wirkliche Leben, sagt sie, kann aber im Theater erzeugt werden: „Hier gibt es den zügellosen Spaß, die rasende Wut, die reine Liebe. Hier drinnen ist das Leben drastisch und kompromisslos.“ So gesehen ähnelt der schöpferische Prozess dem des Gebärens: Was wächst, kommt unter Schreien und Schmerzen heraus und wird dem Publikum ungewaschen unter die Nase gehalten.

„Hier drinnen“‚ das ist seit Mai 1999 der Schoko-Laden in der Ackerstraße. Vorher bespielte das Orphtheater eine Wohnung in Prenzlauer Berg, das Laborph. Aber auch im Tacheles zeigte die Gruppe ihre intensiven Theaterzumutungen, in der Parochialkirche, im Mauerpark und im Pratergarten. Truckenbrodt grinst: „Innerhalb von Berlin haben wir an jede Ecke gepisst.“ Das Orphtheater entstand 1990 aus dem Pantomimenensemble Prenzlauer Berg unter der Leitung des Regisseurs Thomas Roth. Ein Theater, das im Ursprung keine Sprache hatte, das seine Stücke neu erfinden wollte. Matthias Horn, Schauspieler und organisatorischer Leiter, erinnert sich gern an die drei ersten sprachlosen Jahre: „Das war eine gute Übung. Oft wird zu schnell gesprochen, bevor sich das Theater überhaupt entwickeln kann. Der Körper spricht zuerst.“

Für Susanne Truckenbrodt war klar, „dass die Sprache irgendwann wieder kommen würde, über Laute und Gesänge, über Kommunikation mit dem Publikum.“ Orpheus, der antike griechische Sänger, steht als Namespate hinter der Gruppe. Auf seine Gesänge, angestimmt, die Seele zu befreien, berufen sich Truckenbrodt, Horn und Co.

In zehn Jahren Theaterarbeit sind 21 Inszenierungen entstanden. Finanziell goldene Zeiten waren die zwei Jahre als ABM-Projekt, inzwischen fließen auch Fördermittel vom Senat: Für 2001 ist eine Basisförderung von 200.000 Mark in Aussicht gestellt. Aber auf halber Wegstrecke, 1995, hat das Orph’sche Wir-Gefühl einen Knacks bekommen. Künstlerische und persönliche Differenzen spalteten die Gruppe. Thomas Roth wollte das Theater auflösen und verließ es dann. „Das war wie eine Ehekrise“, erzählt Uwe Schmieder, Schauspieler und Protagonist in zahlreichen Produktionen. „Der Schnitt ist vernarbt, aber die Narbe ist wetterabhängig.“

Heute suchen sie wieder „starke dramatische Partner“, an denen sie wachsen können, Dramatiker wie Heiner Müller oder Brecht, „die Gedanken und Energie stark komprimieren“. Manchmal, so Truckenbrodt, reduziert sich Theater auf das, was man mag, und das, was man nicht mag: „Nur nicht so eine lauwarme Sprache“, erklärt sie entschieden, „nicht so ein Alltagsblabla oder dieses Smalltalk- und Trendtheater.“

Sein Frauen- und Männerbild brennt das Orphtheater in höheren Hitzegraden. „Medea-Material“ (im Frühjahr dieses Jahres) zeigte ein ungeheuerliches Weibsstück jenseits der Gesellschaftsfähigkeit, und auch im Fall „Baal“ dockt das Inszenierungsinteresse an dem Lebenshunger der Figur an: „Baal wird niemals satt,“ meint Truckenbrodt, „das ist die Geschichte eines Mannes, den keiner kennen will, der aber jeder gerne sein möchte.“

Nun werden wir ihn als Orph’schen Körperkämpfer kennen lernen.

Premiere von „Baal“ am 8. 12. um 20 Uhr, Orphtheater im Schoko-Laden, Ackerstr. 169, Mitte