zoologie der sportlerarten
: Prof. Hirsch-Wurz über den Fußballtorwart

Geworfenheit ohne Hände

Kaum einem Vertreter der sportlichen Fauna und Flora ist in den letzten Jahren vom Regelwerk so übel mitgespielt worden wie dem Homo grabschicus. Nahezu alles, was das Leben eines Torwarts in der Vergangenheit lebenswert machte, ist ihm genommen worden. Vorbei die Zeit, da er mit ausgreifenden Schritten durch den Strafraum trabte, die Bälle aus der Luft pflückte und dann minutenlang als lebendes Denkmal seiner selbst auf der Stelle stand, den Ball lässig auftippend und im Geiste die diversen Möglichkeiten eines Erfolg versprechenden Abschlages durchdeklinierend. Stattdessen ist er zu einem gehetzten Wild geworden.

Seit es die Regel gibt, dass der Torwart in seinem Fünfmeterraum eine besonders geschützte Spezies ist, tut er gut daran, selbigen nicht zu verlassen, da die Schiedsrichter im Umkehrschluss die Auffassung vertreten, dass außerhalb dieses Areals alles mit ihm angestellt werden kann. Andererseits muss er aber ständig raus, weil die Trainer beschlossen haben, dass es dem Fußball besonders förderlich ist, das Mittelfeld so lange mit Menschen anzufüllen, bis jeder Ansatz von Spielkultur und Kreativität im Keim erstickt wird. Einsam und verlassen steht hinten nur noch der Homo grabschicus und soll als Hilfslibero alles wegsensen, was ihm vor die Füße kommt. Das kann er nicht, denn wenn er Fußball spielen könnte, wäre er ja kein Torwart geworden, wie ein kluger Mann namens Ruud Gullit einmal gesagt hat. Also blamiert er sich unaufhörlich, gibt im Fernsehen regelmäßig den Kasper und wird darob immer wunderlicher.

Vorbei sind auch die goldenen Zeiten, in denen der Homo grabschicus munter wie eine junge Katze nach den Beinen der Angreifer hechten durfte. Das Schlimmste, was ihm widerfahren konnte, wenn er mal wieder am Ball vorbei- und in den Unterbau eines Stürmers rauschte, war ein Elfmeterpfiff. Heutzutage aber fliegt der letzte Mann, wenn er foult, vom Platz, und wenn hier einer der letzte der letzten Männer ist, dann ja wohl der Torwart. Drum stehen sie nun, wenn Gefahr naht, meist mit gebeugten Knien da, als sei ihnen ein Malheur passiert, und rühren sich nicht vom Fleck, bis ihnen der Ball durch die Beine geschoben wird oder irgendein Tölpel sie anschießt.

Damit er ja nicht auf dumme Gedanken kommt und sich womöglich einbildet, er sei doch ein nützliches Mitglied der Fußballergemeinschaft, haben sich die Fifa-Sadisten eine besondere Schikane ausgedacht: Er darf den Ball so gut wie nie in die Hand nehmen, das Einzige, was er tatsächlich kann und was im Grunde seine Existenzberechtigung ausmacht. So entzieht das Regelwerk dem Homo grabschicus quasi die Rechfertigung seines Seins im wahrhaftigen sartrianischen Sinn und er wird noch wunderlicher.

Um das Dilemma des Torwarts in seiner ganzen Geworfenheit zu verstehen, sei ein kleiner Rückblick in die Anfänge der Menschheit und damit auch des Homo grabschicus gewagt. Stellen wir uns bloß mal vor, was aus jenen ebenso berüchtigten wie vorwitzigen Affen geworden wäre, die vor Millionen von Jahren ihre Baumkronen verließen und plötzlich auf zwei Beinen die Gegend unsicher machten, wenn man ihnen auf der Stelle verboten hätte, die Hände zu benutzen, und sie angewiesen hätte, alles Wesentliche mit den Füßen zu erledigen. Was wäre aus den armen Teufeln geworden? Exakt: Affen! Was manch wunderliche Handlungsweise des zeitgenössischen Homo grabschicus in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Im Wesentlichen gibt es drei signifikante Unterarten des Homo grabschicus: Den H. g. buerocratis (Prototyp: Köpke, Seaman), den H. g. schnoeselensis (Schmeichel, Lehmann, Butt) und den H. g. excentricus (Higuita, Chilavert, Maiersepp). Eher ein Seitenzweig ist der Homo grabschicus cromagnis, von dem bisher nur ein einziges Exemplar entdeckt wurde. Es haust in einem geräumigen Verlies im Keller des Münchner Olympiaturms und wird nur an den Spieltagen herausgelassen.

Wissenschaftliche Mitarbeit: MATTI LIESKE

Autorenhinweis:Holger Hirsch-Wurz, 37, ist ordentlicher Professor für Human-Zoologie am Institut für Bewegungs-Exzentrik in Göttingen