Historische Zufälle

Am Tag vor dem Gipfel fährt Kanzler Schröder zur Einweihung eines Willy-Brandt-Platzes nach Warschau. 30 Jahre nach Brandts Kniefall

BERLIN/WARSCHAU taz ■ Kurz vor halb zwölf gibt es dann doch so etwas wie einen Kniefall. Es ist nur ein klitzekleiner, und die Beine des Kanzlers bleiben dabei ganz gerade, schließlich steht er am Rednerpult des polnischen Parlaments. Doch wie einst Willy Brandt, der am Donnerstag vor 30 Jahren vor dem Denkmal für die Aufständischen des Warschauer Ghettos in die Knie ging, leistet auch Gerhard Schröder Abbitte.

Er tut das gewunden und ohne spektakuläre Geste, aber in einem Punkt, der lange das Verhältnis der deutschen Sozialdemokraten zum freien Polen beeinträchtigt hat: dem nie ganz ausgeräumten Eindruck, die SPD hätte sich in den 80er-Jahren lieber mit den regierenden polnischen Kommunisten arrangiert, als die Gewerkschaft Solidarność zu unterstützen. „Ich räume ein“, sagt Schröder in der zentralen Rede seines eintägigen Besuchs, „dass die Art und Weise, wie manche deutschen Politiker, auch manche Sozialdemokraten, in jener Zeit das Festhalten am Ziel der Stabilität betont haben, der geschichtlichen Bedeutung des polnischen Freiheitskampfes nicht gerecht wurde.“

Mit seiner Visite direkt vor dem Abflug zum EU-Gipfel in Nizza will der Kanzler für Brandt und die eigene Partei die Patenschaft für die europäische Vereinigung beanspruchen. In Schröders Augen führt eine direkte Linie von Brandts Entspannungspolitik bis zum Erstarken von Solidarność und schließlich zum Fall der Mauer. Am Verdienst der polnischen Gewerkschaftsbewegung lässt er dabei keine Zweifel. Den Bogen in die europäische Zukunft möchte Schröder allerdings gerne selbst schlagen – erneut unter Berufung auf Brandt. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, hatte dieser nach dem Fall der Mauer über Ost- und Westdeutschland gesagt. Der Kanzler sehe seine Aufgabe darin, diesen Satz auf Europa zu übertragen, streuen seine Berater vor dem Abflug.

Unweit der Stelle des historischen Kniefalls weihte Schröder gestern einen Willy-Brandt-Platz ein. Es ist der erste deutsche Politiker, dem die Polen auf diese Art ihre Anerkennung zeigen.

PATRIK SCHWARZ