Geflügel im Kapitalismus

■ Das ChineloTheater spielt „Der gefallene Engel“ frei nach Marquez

Nikolaus trug einen merkwürdigen Zufall in seinem Sack. Zwar ist es nichts Ungewöhnliches mehr, Prosatexte auf die Bühne zu stemmen. Aber es muss schon mindestens ein vom Treiben der Welt erzürntes Christkind gewesen sein, das Gabriel García Marquez' Erzählung „Ein sehr alter Herr mit riesengroßen Flügeln“ letzten Mittwoch im Schlachthof und am morgigen Samstag im MOKS–Theater landen ließ. Die Geschichte handelt von einem „Urgroßvater“ „mit Aasgeierflügel“ „in beklagenswertem Zustand“ und die verständnislose bis grausame Reaktion der Umwelt auf dies eher mysteriöse als mystische Wesen. Der Vielleichtengel spricht nur Altnorwegisch und stürzte in einem Bauernhof ab. Vielleicht wollte er das fiebrige Kind der Familie in den Himmel holen, aber gewiss ist bis zum Schluss nichts.

Das ChineloTheater des seit 1985 in Bremen lebenden und theaterspielenden Mexikaners Abiud Chinelo entscheidet sich mit dem Titel „Der gefallene Engel“ für mehr Eindeutigkeit. Mit seinen daunenflauschigen Flügeln und weißgepudertem, traurigem Gesicht erinnert Chinelo an einen ikarusartig-gescheiterten Himmelsboten. Wie bei Marquez strömen nach den Gaffern die Kranken zwecks Wunderheilung herbei. Bei Marquez ist es „eine Frau, die seit der Kindheit die Schläge ihres Herzens zählte und der die Zahlen ausgegangen waren, ein Jamaikaner, der nicht schlafen konnte, weil ihn der Lärm der Sterne quälte“, bei Chinelo sind es schnöde Lahme und Blinde. Danach katapultiert Regisseurin Maria von Bismarck das Stück aus dem kolumbianischen Hühnerstall ins High-Tech-Age. Der Engel wird von einer herzlosen Medizin mehr zerlegt als untersucht und von Managern in die Pflicht des Shareholder Value genommen. Vermutlich entschied man sich für die reichlich stereotype Form der Gesellschaftskritik, weil viele Szenen pantomimisch funktionieren. Die Geschäftswelt etwa symbolisieren Claudio Paes und Boris Radivoj durch Roboterbewegungen. Ein Preis für originelle Choreografie ist damit nicht zu gewinnen, aber die Idee des ChineloTheaters war es schon immer, geradlinigen politischen Anspruch mit lateinamerikanischer Mythologie und europäischer Theaterkultur zusammenzubringen. Und so stehen hochtönige shakespeareartige Elogen über eine marode Menschheit neben Biblischem und federleichtem Kabarett. Jörg Riedel stiftet dazu unaufdringliche gemäßigt-freejazzige Töne auf Saxophon und Trommel. Sympathisch wirkt die eher märchenhaft-schlichte Umsetzung des Stoffes aber nur aufgrund des großen Charmes der drei Schauspieler. bk

8.-10., 13., 17., 20. , 21. 12. im brandneu eröffneten Chinelo-Haus, Feldstr. 103, 20 Uhr.