Biotechnologie als Erregungsvorlage

Die neuen gentechnologischen Möglichkeitsformen des Menschen speisen die alten Sehnsüchte: Verabschiedung der Geschichte, Exodus aus der Welt

von ULRIKE BAUREITHEL

Die großen Erzählungen, so schien es Anfang der Neunzigerjahre, sind erledigt, dekonstruiert, passé, nachdem die jeweiligen Agenten und Agentinnen an ihrem historischen Auftrag gescheitert sind oder ihn gar verraten haben. An ihre Stelle treten nun offenbar die Wissenschaftserzählungen, die in den Labors oder den virtuellen Wirklichkeiten der Computerfreaks ausgebrütet, oder besser gesagt: generiert werden. Jeden Tag eine neue, angeblich sensationelle Entdeckung, wir werden in Atem gehalten vom vorgeblichen Wettlauf in den Biosciences, dem Goldrausch um Genpatente, den Erfolgskurven der New Economy.

Im Unterschied zu den großen historischen Erzählungen bedürfen die neuen Wissenschaftsmythen keiner unberechenbar agierenden Subjekte mehr: Während sich im virtuellen Raum so genannte Cyborgs selbstständig machen, übernehmen in der Biomedizin die Gene die Rolle des historischen Akteurs.

Die Faszination unbegrenzter Replikation dringt aus dem Blätterwald. Dort schwärmte der Bonner Neuropathologe Oliver Brüstle über die unglaublichen Fähigkeiten embryonaler Stammzellen: Nicht nur seien die aus Embryonen gewonnenen Stammzellen, die, in eine „fremde“ Eizelle (über deren Herkunft schweigt sich Brüstle aus) transferiert, einen neuen Zellkern entwickeln, unbegrenzt vermehrbar; diese „Alleskönner“ unter den Zellen haben auch die Fähigkeit, sich zu jedem x-beliebigen Zelltypus zu entwickeln. Über diese „unerschöpfliche Quelle“ war Brüstle bereits auf dem großen Fortpflanzungsmedizinkongress im Mai in Berlin in Verzückung geraten. Dass nun das britische Unterhaus dieses so genannte therapeutische Klonen freigeben will, während die deutschen „Bedenkenträger“ die als „Wissenschaftsstandort Deutschland“ getarnten Karriereambitionen versperren, erscheint den Molekularbiologen, die bis vor zehn Jahren noch als „Sandmännchen“ der Wissenschaft galten, unerträglich.

Lauscht man dem medialen Rauschen in Bezug auf Biomedizin und Informationstechnologie, hat man den Eindruck eines gewaltigen Wettlaufs, eines Wettrüstens, das dem Prinzip selbstregulierender, unbegrenzter Erweiterbarkeit folgt. Statt „natürliche“ Reproduktion gilt nun Replikation; statt eines komplizierten Organismus terrorisiert uns der genetische Code; statt dem Individuum herrscht der Klon; geistige Anstrengung wird ersetzt durch künstliche Intelligenz, Lohnarbeit durch Robotik.

Interessant ist, dass die von den Computerspezialisten vorgeführten Generierungstechniken demselben Prinzip folgen wie die der Biotechnologen: Letztlich geht es um die Zerlegung natürlicher oder künstlicher Materie in kleinste Einzelteile und ihre nachfolgende Rekombination. So wie Pollack und Lipson den Computer mit „harten“ Bauelementen und „soften“ Bewegungsgesetzen speisen, die beliebig zusammensetzbar sind, so ist die Genmanipulation angewiesen auf die in den Siebzigerjahren entwickelten Rekombinationstechniken der DNA. Der genetische Code setzt sich zusammen aus den Buchstaben der vier Basen Adenin und Cytosin, Thymin und Guanin, die ihrerseits in Dreierkomibination eine Aminosäure bilden. Daraus ergeben sich 64 Kombinationsmöglichkeiten, aus denen die zwanzig Aminosäuren in unserem Körper hergestellt werden. Eine dieser Zerlegungstechniken hat Craig Venter im Frühjahr unter allgemeiner Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vorgestellt: „Shot gun“-Methode, Schrotflintentechnik, nennt er das Prozedere, mit der er die DNS „zerschießt“.

Zerlegung und künstliche Neuzusammensetzung – in der Medizingeschichte der letzten fünfhundert Jahre lässt sich das wie ein roter Faden verfolgen: von der Anatomie und der Leichensektion über die „traditionelle“ Transplantationsmedizin bis zur heutigen Biomedizin. Wobei das neu entstehende Artefakt dazu ausersehen ist, sich zu verselbstständigen und den Menschen, wie die Woche kürzlich schrieb, als „Auslaufmodell“ vorzuführen. Vor diesem Hintergrund verspricht die Repromedizin „Designer-Babys“, Kinder nach Maß, frei von Krankheit und Behinderung. Die Gentherapie suggeriert die gentechnisch unterstützte Früherkennung von Krankheiten, ohne tatsächlich Therapien bereitstellen zu können; die molekulare Altersforschung wirbt mit einem Ewigkeitsgen; die Xenoforschung offeriert „Organspendeschweine“; die Genfoodindustrie proklamiert das Ende des Welthungers und vieles mehr.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die Entlastungsgeschichten, die die Biomedizin erzählt, und die von ihr gelieferten, auf die Zukunft gerichteten „Erregungsvorlagen“. Der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Ray Kurzweil hat kürzlich seine Vorstellung der dialektischen Bewegung des gesellschaftlichen Umgangs mit technischen Revolutionen vorgestellt: Das erste Stadium, sagt er, sei „von Ehrfurcht und Erregung“ geprägt und der Hoffnung, alte Probleme auf neue Weise lösen zu können. In deren Folge allerdings mache sich „Furcht und Schrecken vor der Gefahr der Technologie und ihren potentiell destruktiven Kräften breit“. Im dritten Stadium erlange das aufgeklärte Individuum die Gewissheit, „dass der technische Fortschritt unvermeidlich ist und zudem Teil eines allumfassenden evolutionären Prozesses“. Unvermeidlich, weil ohnehin naturwüchsig eingebettet in die evolutionäre Entwicklung, so präsentiert sich der neue genetische und informationelle Determinismus.

Dabei sind es, darauf hat die Wissenschaftshistorikerin Lily Kay, die in Harvard in den Achtzigerjahren das Humangenomprojekt begleitete, aufmerksam gemacht, die im Wettlauf mit der Zeit und mit dem Medieninteresse befindlichen Wissenschaftler selbst, die ihre Mythen produzieren und popularisieren. Ihre eigenartigen Hybrid-Geschichten schüren nicht nur uneinlösbare Erwartungen; vielmehr manifestieren sich in ihnen Entlastungsversprechen, die, wie der Publizist Claus Koch kürzlich vermerkte, „im Gegenteil ganz neue Lasten mit sich bringen“.

War der Körper bislang nur beschränkt kontrollierbar, sind wir nun konfrontiert mit der – angeblichen – Wissenslast um das eigene „Körperkapital“, um dessen Zustand und seine Perspektiven. Allerdings ist selbst ein so kritischer Denker wie Koch nicht gefeit gegen den genetischen Determinismus, denn er unterstellt ein „genetisches Schicksal“ und das damit verbundene Risiko als selbstverständlich und leitet daraus gesellschaftspolitische Perspektiven ab: „Wenn bisher geteilte Unwissenheit und Schwäche der Individuen die Solidaritäten schmieden ließ“, konstatiert er, „so müsste künftig gerade das geteilte Wissen von den lesbaren Genomen die Voraussetzungen für eine zivile Ordnung sein. Hier erst begänne die biotechnische Revolution.“

Wie fatal dieses von Koch selbstverständlich angenommene „biologische Schicksal“ wirken kann, lässt sich beleuchten an einem Fall, der im Sommer durch die Presse ging: Die 43-jährige Terry Seargeant aus North Carolina erkrankte vergangenes Jahr an einer seltenen, erblich bedingten Lungenerkrankung, an der ihr Bruder 1991 gestorben war. Damals beruhigten die Ärzte Terry damit, dass die Krankheit bei weiblichen Familienmitgliedern eine Generation überspränge. Die Erkrankung ist bei entsprechender Medikation keineswegs lebensbedrohend, doch ihre Behandlung verschlingt monatlich rund achttausend Mark, die zunächst von Terrys Krankenversicherung des Unternehmens, bei dem die erfolgreiche Versicherungsmaklerin beschäftigt war, übernommen wurde. Auf Intervention des Rückversicherers, der die lebenslangen Behandlungskosten durch Gentests hochrechnete, wurde Terry Seargeant „wegen mangelhafter Managerqualitäten“ entlassen, obwohl ihre Arbeitsfähigkeit bei konsequenter Durchführung der Behandlung nicht beeinträchtigt war.

Gentests suggerieren die Kontrolle über die zukünftige Entwicklungsrichtung des Körpers. Doch der Fall Terry Seargeant zeigt, das die gendiagnostischen Prognosen so unzuverlässig sind wie die gentechnischen Diagnosen oft genug fahrlässig. Nicht jede Mutation, die durch einen Gentest aufgedeckt wird, führt zu einer Krankheit; und umgekehrt ist nicht jede medizinische Unbedenklichkeitserklärung valide.

Der Heidelberger Theologe Klaus Berger macht auf ein weiteres Entlastungsmoment im derzeitigen Diskurs aufmerksam: Wer unter die besonderen Schützlinge Gottes fällt, betont er, sei eine Frage der Namensfähigkeit, die im gegenseitigen Miteinander zuerkannt werde und Unteilbarkeit voraussetze. Ein Roboter jedoch habe keine Biografie, keine Geschichte und sei insofern auch nicht namensfähig. Doch gerade dieses von Verantwortung freigesprochene Subjekt, das keine konstante „Einheit“ mehr vorstellt und als eine von vielen Erzeugern hervorgebrachte Semiose auftritt, ist Angebot und Herausforderung zugleich: Es scheint befreit von der Last der Individualität, entlastet von Geschichte überhaupt.

Die Genesis, gab der Genforscher Austin Smith zu Protokoll, sei nichts weiter als „eine nette alte Geschichte“. Bedenkt man, dass die eugenischen Programme der Nationalsozialisten gerade auf – wenn auch absurden – genealogischen Recherchen basierten, begreift man die Faszination, die derlei „ursprungslose“ Wesen ausüben. Dies umso mehr, weil das potentielle „positive Eugenikprogramm“ der Gentechnologen von Kritikern gerne als lineare Fortsetzung der NS-Rassenpolitik verteufelt wird. Auch in dieser Hinsicht würde sich die Disziplin gerne „geschichtslos“ erklären.

Ob es nun euphorisch prophezeit oder düster an die Wand gemalt wird: Einig ist man sich in den vom alltäglichen Leben abgeschiedenen Wissenschaftsenklaven darüber, dass eine Entwicklung, in der die Maschine sich ihr eigenes Bewusstsein und ihre eigene Evolution schafft, unausweichlich ist. Im Unterschied zu früheren technischen Revolutionen wird, auch hierin bestätigen sich die High-Tech-Spezialisten, der Mensch nicht durch die Maschine ersetzt, sondern, wie Bill Joy und Ray Kurzweil betonen, beide „verschmelzen“ miteinander; wobei sich die Natur, wie Joy meint, „auf die Seite der Maschine“ schlägt. Damit steht wieder einmal die prekäre Grenze zwischen Mensch und Maschine einerseits zur Disposition und andererseits – dafür spricht der derzeitige populäre Boom der Primatologie ebenso wie die erregten Diskussionen im Zusammenhang mit der Xenotransplantationsforschung – die zwischen Mensch und Tier.

Diese fantasierte Überschreitung der Gattungsgrenzen – ein, wie wir aus einer langen literarischen Tradition wissen, uraltes Menschheitsprojekt – hat mit den gentechnologischen Ersetzungs- und Rekombinationstechniken eine neue Möglichkeitsform erreicht und setzt die Vorstellungen darüber, was den Mensch zum Menschen macht, einer tiefgreifenden Irritation aus. Die Furcht, unsere Individualität durch „Verschmelzung“ zu verlieren, beflügelt eine Semantik von Verteidigung (des Selbst) und von Invasion.

Die Spezialisten treten mittlerweile selbst als Erzähler ihrer Geschichten auf, in denen von unbegrenztem Wissen und der Kontrolle über den Körper die Rede ist; von der Verabschiedung der Geschichte, der Überschreitung der Gattungsgrenzen und letztlich dem Exodus aus der Welt. Dahinter steht der kaum übersehbare Wunsch, den Tod zu überwinden, dieses „Leben als Krankheit zum Tode“, wie es der Gentech-Pionier Watson einmal formulierte. „Wenn Bewusstsein bald kein Thema mehr ist“, sagt Kurzweil, und er meint das auf Maschinen abgespeicherte Bewusstsein, „wird auch der Tod in Vergessenheit geraten“.

Über Leben und Tod nachzudenken war bislang die Aufgabe der Theologie und der Philosophie. Sie stellten sich nicht zuletzt als Interpretinnen dessen bereit, was in den Schaltzentralen der Informationstechnologie, den Labors oder den Operationskatakomben vor sich ging. Im Moment allerdings hat man den Eindruck, dass die geisteswissenschaftlichen Disziplinen dieses Interpretationsmonopol abgegeben haben. Wenn sie sich einmischen, dann mit Überbietungsfiguren, die reflektiertere Naturwissenschaftler, wie kürzlich Jens Reich, schaudern machen. Die überraschende Übereinstimmung darin, dass unsere „kulturellen Institutionen von der Technik längst überholt sind“ – dieses Credo teilen Joy, Sloterdijk, Koch und der Theologe Berger –, scheint indessen niemanden zu irritieren. Vielmehr singen die Barden des neuen Jahrtausends das alte Lied der „schrittweisen Gewöhnung“ des Menschen an die neuen Verhältnisse. Solange die technische Mythologie die religiösen Bedürfnisse der Menschen speist, sind technisches und kulturelles System offenbar bündnisfähig.

ULRIKE BAUREITHEL, 43, lebt als Redakteurin und Publizistin in Berlin. Der Text ist die stark gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vortrags, den sie unlängst bei einem Zukunftscolloquium der Heinrich-Böll-Stiftung in Rostock gehalten hat. Zusammen mit Anna Bergmann veröffentlichte sie das Buch „Herzloser Tod. Das Dilemma der Organspende“, Klett-Cotta, Stuttgart 1999, 263 Seiten, 29,80 Mark