„Jeder kleine Schritt hilft“

Kriegsverbrechertribunale in Den Haag, Arusha und Tokio untersuchen sexuelle Gewalt als systematisch eingesetzte Kriegsstrategie. Die ehemalige UN-Sonderberichterstatterin für sexuelle Sklaverei, Gay McDougall, zur völkerrechtlichen Verfolgung dieser Menschenrechtsverletzungen

Ein Interview von SVEN HANSEN

Die Juristin Gay McDougall wurde 1997 von der UN-Menschenrechtskommission zur Sonderberichterstatterin des Unterausschusses für den Schutz und die Rechte von Minderheiten ernannt und beauftragt, einen Bericht zum Thema „Gegenwärtige Formen der Sklaverei: systematische Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei und sklavereiähnliche Praktiken in bewaffneten Konflikten“ auszuarbeiten. Sie legte im Juni 1998 einen ersten Bericht und ein Jahr später eine Aktualisierung vor, die erst im Juni 2000 veröffentlicht wurde. Die 53-Jährige ist heute Mitglied im UN-Komitee gegen soziale Diskriminierung und Direktorin der „International Human Rights Law Group“ in Washington, die Menschenrechtsgruppen insbesondere in Bürgerkriegsstaaten unterstützt.

taz: Wie wird sexuelle Sklaverei im Völkerrecht definiert?

Gay J. McDougall: Abgeleitet von der Sklaverei-Konvention von 1926 wird Sklaverei definiert als Behandlung einer Person als persönlicher Besitz und als Verweigerung ihrer Autonomie. Der Zusatz sexuell beinhaltet das Motiv und die Art des Missbrauchs des Opfers.

Spielt es keine Rolle, ob Geld fließt, also ein Mensch gehandelt wird?

Nein. Entscheidend für den Tatbestand der Sklaverei ist die Einschränkung seiner Freiheit. Das wurde in den Entscheidungen internationaler Gerichtshöfe wie bei dem für das ehemalige Jugoslawien klar festgestellt.

Welche Muster sexueller Sklaverei und ähnlicher Praktiken gibt es?

Vergewaltigungen von Frauen im Krieg sind ein uraltes Problem. Es wird erst in jüngster Zeit ernst genommen, als Verbrechen behandelt und auch auf internationaler Ebene geahndet. Die Gründe und Taktiken für systematische Vergewaltigungen im Krieg reichen von Demütigung der gegnerischen Seite über die Verbreitung von Angst und Hysterie unter der Zivilbevölkerung bis hin zu dem, was wir in Bosnien-Herzegowina und Ruanda sehen konnten: Dort wurden Vergewaltigungen zur sorgfältig angewandten Waffe im Krieg und beim Völkermord. Auch in Sierra Leone hat es weitverbreitete Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen gegeben. 1999 habe ich dort 45 Mädchen interviewt, die in den Busch entführt und dann monatelang von Banden vergewaltigt wurden.

Zu welchen Ergebnissen kommen Ihre Berichte?

Das Ziel war zunächst, nachzuweisen, dass systematische Vergewaltigungen, sexuelle Sklaverei und ähnliche Praktiken in bewaffneten Konflikten die Menschenrechte und das Völkerrecht verletzen. Deshalb müssen diese Fälle untersucht, die Täter verurteilt und die Opfer entschädigt werden. Selbst in Fällen, in denen es sich nicht um bewaffnete Konflikte handelt, kann es Fälle von sexueller Gewalt einschließlich Vergewaltigungen geben, die als sexuelle Sklaverei, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid oder Folter geahndet werden können. Ein Beispiel hierfür sind die Massenvergewaltigungen chinesischstämmiger Indonesierinnen während der Unruhen in Jakarta, die im Mai 1998 zum Sturz von Präsident Suharto führten. Zu meinen Empfehlungen gehört der Hinweis, dass es in vielen Ländern entsprechender Gesetze bedarf, die eine Ahndung der Verstöße gegen internationales Recht auf nationaler Ebene ermöglichen. Und es bedarf angemessener Mechanismen zum Schutz von Opfern und Zeugen während solcher Verfahren.

Zu welchem Ergebnis kam Ihre Untersuchung der Zwangsprostitution durch die japanische Armee im Pazifikkrieg?

Die japanische Regierung hat in mehrfacher Hinsicht gegen das Völkerrecht verstoßen. Sie sollte sich deshalb bei den Opfern formal entschuldigen und ist verpflichtet, sie zu entschädigen.

Warum spielen Verbrechen, die mehr als 55 Jahre zurückliegen, heute noch eine Rolle?

Zum einen verjähren schwere Menschenrechtsverletzungen juristisch nicht, das heißt, sie können auch heute noch geahndet werden. Dann gibt es noch viele Überlebende, die darauf warten, dass das ihnen zugefügte Leid als Unrecht anerkannt wird und ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Die Welt kann sich im Umgang mit sexueller Sklaverei nicht weiterentwickeln, ohne diese Fälle aufzuarbeiten. Wenn solche Verbrechen nicht bestraft werden, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich wiederholen. Es gibt von daher einen Zusammenhang zwischen der mangelnden juristischen Verfolgung der japanischen Verbrechen an den Zwangsprostituierten und zum Beispiel den Vergewaltigungen im Bürgerkrieg in Sierra Leone.

Wie hat die japanische Regierung auf Ihre Berichte reagiert?

Die Regierung in Tokio interpretiert die Rechtslage anders als ich. Dabei bin ich nur von den Fakten ausgegangen, die Tokio selbst einräumt. Japans Regierung ist der Meinung, dass Sklaverei damals noch kein Verbrechen war und dass Vergewaltigungen in bewaffneten Konflikten auch erst nach dem Zweiten Weltkrieg völkerrechtlich geächtet waren. Man könne Japan deshalb nicht rückwirkend anklagen. Und selbst wenn es irgendwelche rechtlichen Ansprüche gäbe, seien diese aus Sicht Tokios durch die Friedensverträge geregelt worden. Aus meiner Sicht sind diese Argumente nicht stichhaltig. Zum Beispiel weiß ich gerade als Afroamerikanerin, dass die Sklaverei in den Dreißigerjahren natürlich international geächtet war. Klar düfte auch sein, dass Regierungen in zwischenstaatlichen Verträgen nicht Ansprüche von Individuen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen ausschließen können.

Was kann ein inoffizielles Tribunal erreichen, wie es jetzt Frauenorganisationen in Tokio zur Zwangsprostitution durch die japanische Armee durchführen?

Es gab bisher weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene ernsthafte Versuche, die Fakten zur Zwangsprostitution durch die japanische Armee auszuwerten und dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Das ist nicht nur wichtig für die Überlebenden, sondern auch für den Rest der Welt. Es ist doch erstaunlich, wenn behauptet wird, damals seien Vergewaltigungen kein Kriegsverbrechen gewesen. Natürlich waren sie das, und sie müssen geahndet werden.

Wie waren die Reaktionen auf Ihre Berichte?

Beide Berichte wurden von der Unterkommission verabschiedet und der UN-Menschenrechtskommission vorgelegt. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte wurde beauftragt, jährlich einen Bericht zu systematischer Vergewaltigung, sexueller Sklaverei und sklavereiähnlichen Praktiken vorzulegen.

Teilen Ihre zwei Berichte nicht das Schicksal vieler UNO-Studien, dass Papier sehr geduldig ist und sie keine praktische Relevanz haben?

Die UNO bewegt sich meist langsam, aber jeder kleine Schritt hilft. Ich komme aus der Anti-Apartheid-Bewegung und habe erlebt, wie sich über zwanzig Jahre auch auf UN-Ebene eine entsprechende Sicht durchsetzte, obwohl vielleicht jeder Schritt für sich genommen nicht den Durchbruch gebracht hat. Meine Berichte sind besonders für die betroffenen Frauen in Asien hilfreich, weil es das erste Mal ist, dass ihre Position überhaupt völkerrechtlich untermauert wurde.

Welche Entwicklungen sehen Sie beim Völkerrecht und der völkerrechtlichen Praxis im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in bewaffneten Konflikten?

Bei den beiden Ad-hoc-Gerichtshöfen für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien ist die Einrichtung spezieller Einheiten für geschlechtsspezifische Verbrechen bei den jeweiligen Anklägern zu begrüßen. Damit soll sichergestellt werden, das sexuelle Kriegsverbrechen nicht übersehen werden. Es wurden bereits entsprechende Anklagen erhoben und erste Erfolge erzielt. Auch in den bereits verabschiedeten Statuten des in Gründung befindlichen Internationalen Strafgerichtshofs sind sexuelle Sklaverei und Vergewaltigungen als Verbrechen explizit erwähnt.

Wie bewerten Sie das gegenwärtig vor dem internationalen Strafgerichtshof für das ehemaligen Jugoslawien in Den Haag laufende so genannte Foča-Verfahren, bei dem es erstmals zur völkerrechtlichen Anklage „nur“ aufgrund sexueller Sklaverei gekommen ist?

Das Verfahren ist ein Durchbruch. Es gibt Anlass zur Hoffnung, dass solche Verbrechen künftig nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden.

SVEN HANSEN, 39, ist Redakteur im taz-Auslandsressort. Sein Schwerpunkt: Ostasien