Leser zu Spionen gemacht

■ Spurensuche in der deutschen Geschichte auf drei verschiedenen Zeitebenen: Marcel Beyer liest am Sonnabend aus seinem jüngsten Roman „Spione“

Weil der Literaturbetrieb kein Startup-Unternehmen ist, herrscht dort eine andere Auffassung von Zeitlichkeit. Zumindest schien es niemanden der Anwesenden zu irritieren, dass Marcel Beyer, immerhin Jahrgang 1965, zuletzt in Hamburg dem Publikum als „junger Autor“ vorgestellt wurde. Kein Raunen ging durch den Saal, kein Schmunzeln durchkreuzte Beyers Gesicht.

Dabei gab es doch in den 90er Jahren noch eine andere Sorte „junger Autoren“, für die der Literaturbetrieb sogar in gewisser Weise ein Startup-Unternehmen gewesen ist. Sie traten in der Harald-Schmidt-Show auf und erhielten auch schonmal sechstellige Vorschüsse. Ihre Bücher zelebrierten zumeist das Setzen feinster Unterschiede oder sprachen einfach nur das aus, was die Mehrheit ohnehin schon dachte.

Auch Marcel Beyer interessierte sich im vergangenen Jahrzehnt für Gegenwärtigkeit. Allerdings studierte er weniger Tyler Brûlés Wallpaper, als dass er in Spex schrieb. Und es erschienen seine ersten beiden Romane Das Menschenfleisch und Flughunde. Letzterer erzählt die Geschichte des Stimmforschers Hermann Karnau. Dessen Projekt ist es, eine Karte zu erstellen, auf der alle vom Menschen hervorgebrachten akustischen Äußerungen verzeichnet sind. Diese private Obsession führt ihn in den Dienst der Nazis. An KZ-Häftlingen exerziert er brutale Versuche; die Schützengräben stattet er mit Mikrofonen aus, um die Laute der Sterbenden einzufangen. Die Karte der Stimmfärbungen wird zum Phantasma eines totalitären Entwurfs, der jedem menschlichen Laut seinen Platz zuweisen möchte.

Beyers neuer Roman mit dem Titel Spione handelt ebenfalls von einer Spurensuche in der deutschen Geschichte. Der Text entwirft ein Geflecht widersprüchlicher Sichtweisen, das sich über drei Zeitebenen erstreckt. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der Versuch der Enkelgeneration, die in ihrer diffusen Grobkörnigkeit verschwommenen Bilder im Familienalbum zu entschlüsseln. Fragen werden gestellt: Was hatte es mit dieser so glamourösen Opernsängerin auf sich, die ihre Großmutter sein soll? War ihr Großvater an den geheimen Einsätzen der Luftwaffe in Spanien beteiligt? Warum schweigen die Eltern so beharrlich? Oder hat die zweite Frau des Großvaters etwa versucht, dessen Kinder mit einer Axt zu erschlagen und Erinne-rungsverbote zu verhängen?

Da der objektive Rückbezug auf eine transparente Vergangenheit sich letztlich als unmöglich erweist, bleibt den Lesern nichts anderes übrig, als selbst die Position des Spions einzunehmen. Denn Leser haben die einzelnen Aussagen nach Indizien für ihre Plausibilität abzutasten, müssen nach Inkonsis-tenzen innerhalb der einzelnen Schilderungen forschen, horchen die Figuren aus – und wir rekonstruieren uns eine Geschichte.

Sven Opitz

Sonnabend, 17 Uhr, Hotel Wedina (Gurlittstr. 23)