Das Fleischkorsett

Eine Kurzgeschichte von Max Müller

Die rechte Box ihrer Stereoanlage hatte ein seltsam schnarrendes Geräusch von sich gegeben. Als auch mehrmaliges Dagegenschlagen nicht half, nahm sie einen kleinen Schraubenzieher, um die Box aufzuschrauben. Als sich die letzte Schraube gelöst hatte, hob sie den Deckel ab. Sie sah in das Innere.

Zuerst konnte sie nichts entdecken. Als sie aber genauer hinsah, entfuhr ihr ein kleiner spitzer Schrei. Zwischen der Membrane und den Kontakten hatte sich eine winzig kleine Schlange eingenistet, die sich sichtlich wohl zu fühlen schien. Sie schreckte zurück. Nicht dass sie Angst vor der kleinen Schlange gehabt hätte, nein, es war die Überraschung über ihren Fund. Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, sah sie sich die Schlange genauer an. Es war eine hübsche kleine Schlange, die bunt gemustert war. In ihrem äußerst wohlgeformten Schlangenkopf steckten zwei schwarze Knopfaugen, die sie neugierig ansahen. Unweigerlich musste sie an ihre Teddysammlung auf dem Regal denken. Oh, wie lieb!

10 Jahre später ...

Aus der kleinen niedlichen Schlange war eine 15 Meter lange Bestie geworden, die das Mädchen, das inzwischen eine Frau geworden war, gefangen hielt. Nur zum Essenholen durfte sie noch raus. Die Wohnung war völlig verdreckt und stank nach Schlangenexkrementen. Überall lagen Schlangenhäute herum. Wie ein dickes, nicht enden wollendes Rohr wand sich der Körper der Schlange durch die Zimmer der Wohnung. Manchmal musste das Mädchen die Schlange mit Babyöl einreiben, damit die Schlangenhaut schön glänzte. Wenn das Mädchen das getan hatte, war es selber ganz voll Babyöl. Das dünne Leibchen, das sie trug, war völlig durchsichtig und zeigte ihre wunderschönen, zur Frau gereiften Formen. Die Brüste, der Po, die schmale Hüften. Aber das interessierte die Schlange nicht weiter. Sie war mehr darauf bedacht, dass die Zimmertemperatur konstant bei 40 Grad lag. Die langen Haare des Mädchens klebten an ihrem hübschen Gesicht, als sie sich daranmachte, die drei Heizungen und die zehn Radiatoren zu überprüfen. „Alle 40 Grad“, stellte sie mit leisem Zorn fest. Ihre vollen sinnlichen Lippen bebten. Wütend spuckte sie den hinteren Teil der Schlange an, der sich, auf ein Regal abgestützt, direkt über der Heizung befand. „Das wird sie wohl nicht merken“, dachte sie. Sie sah sich den buntschuppigen Körper der Schlange, die sie hier gefangen hielt, genau an. Das Muster der Schlange wirkte hypnotisch auf sie und ließ sie in einen Tagtraum verfallen.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie grüne Wiesen, auf denen Kühe grasten. Um sie herum flogen Schmetterlinge in wunderschönen Farben und Formen. Der Himmel war hellblau mit einzelnen Schäfchenwolken, die fast bewegungslos vorbeizogen. Wenn man genau hinhörte, konnte man die Bienen summen hören, die von den Blüten der Blumen den Honig sammelten. Ihre Augen waren ganz glasig geworden und ihre Pupillen zu kleinen Punkten geschrumpft, so dass sie nicht bemerkte, wie sich der riesige Schatten des Kopfes der Schlange über sie schob. Fast lautlos hatte die Schlange sich vom hinteren Zimmer zu dem Mädchen hingewunden. Denn natürlich hatte sie das Spucken auf ihren Körper bemerkt, ihr entging so gut wie nichts. Die Schlange sah das Mädchen, das immer noch regungslos dalag. Von dem öligen schwitzenden Körper stiegen kleine Dampfwölkchen auf. Die Hände lagen in ihrem Schoß gefaltet, der Kopf war leicht zur Seite geneigt. Plötzlich kullerten zwei Tränen aus ihren Augen und fielen auf den verdreckten Teppich. Lautlos glitt der Kopf der Schlange zwischen die Beine des Mädchens, dorthin, wo sie die Tränen vermutete. Der durchgeweichte Rock des Mädchens war durch die Bewegung des Schlangekörpers bis zu den Hüften hochgerutscht. Die Schlange begann nun, die Tränen des Mädchens zu schmecken. Sie schmeckten salzig und traurig. Die Schlange spürte, dass sie das Mädchen nicht ewig gefangen halten konnte und dass sie nicht in diese Wohnung gehörte, auch wenn es ihr an nichts mangelte. Sie öffnete ihr Maul, so weit es ging, senkte es über den Kopf des Mädchens und fing an, es hinunterzuwürgen. Vielleicht ist es besser so, dachte die Schlange. Gerade als ihre öligen Hüften in den Rachen der Schlange rutschten, wurde das Mädchen wach und bekam eben noch mit, wie auch der Rest ihres Körpers in dem der Schlange verschwand. Sie glitt durch einen engen, heißen, glitschigen, schleimigen Tunnel, bis sie stecken blieb. Sie drohte langsam zu ersticken, und ihre Sinne schwanden. Sie bäumte sich dagegen auf und merkte gleichzeitig, wie die Schlange sie zu verdauen begann. Die Magenwände der Schlange, die sich wie rohes Fleisch anfühlten, zwängten ihren nackten Körper (ihr Kleidchen war beim Verschlingen an den Zähnen der Schlange hängen geblieben) wie in ein lebendes Fleischkorsett. Sie spürte, wie die Knochen in ihrem Körper unter den Druck der Schlange wie morsche Zweige zerbarsten, zersplitterten und sich durch ihren Körper bohrten. Endlich wurde sie ohnmächtig.

4 Tage später ...

Die Schlange schied die Knochen des Mädchens aus. Es war genau der Platz, an dem das Mädchen immer gesessen hatte, Bücher las oder fernsah. Der Fernseher lief immer noch. Die Schlange legte ihren Kopf schräg und sah hinein. Für sie waren es einfach bunte Bilder ohne Bedeutung. Langsam schlängelte sich ihr massiger Körper das Bücherregal hoch und stupste die Bücher an, die daraufhin mit einem lauten Gepolter zu Boden fielen.