Wieviel Sicherheit braucht der Mensch?

Die Individuen leiden unter dem Verlust an Kontinuitäten – im Sozialstaat, der Nation und Familie. Was ist dagegen zu tun?, fragt Zygmunt Bauman

Muss ein Bürger wissen, ob er im nächsten Jahr noch einen Job hat? Braucht er eine Familie, die ein Leben lang zusammenhält? Muss er darauf setzen können, dass all die Werte, an die er in seinem Leben geglaubt hat, am Ende nicht lächerlich wirken? Kurz: Wieviel Sicherheit braucht der Mensch?

Das ist die Frage, der sich der britische Soziologe Zygmunt Bauman in seinem neuen Essay über „Die Krise der Politik“ widmet. Bauman geht dabei über das Materielle hinaus. Denn bei Sicherheit, Gewissheit und Kontinuität handelt es sich vor allem um ein Gefühl: „Die Welt ist beständig und verlässlich.“ Deshalb verfügen auch Völker, die wenig auf materielle Sicherheiten setzen können, dennoch über Strukturen, die Gewissheit und Kontinuität verschaffen: allen voran Familie und Religion.

Das zentrale Leiden in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften ist das Fehlen oder die Knappheit an Sicherheiten, Gewissheiten und Kontinuitäten, glaubt Bauman. Die Folgen sind gravierend: „Angst, Verschlossenheit, die Neigung zu Schuldzuweisung und Aggression“ beherrschen das Lebensgefühl der Menschen in der globalisierten (Wirtschafts-)Welt. Nicht zuletzt aus eben dieser Ungewissheit rührt, so Bauman, auch der Fremdenhass.

Mit seiner Deutung bezieht er Stellung gegen den neoliberalen Diskurs, der den Verlust an Sicherheiten primär als Chance für Emanzipationen begreift – und Flexibilität in der Globalökonomie als neue Freiheit verstanden wissen will. Für Bauman aber sind das nur neue Machtverhältnisse: „Transparenz und Flexibilität verheißen einigen (den freiwillig Globalen) mehr Gewissheit und bedeuten für andere (die unfreiwillig Lokalen) mehr Ungewissheit“.

Das Zerbrechen alter Kontinuitäten und Gewissheiten zerstört dabei auch althergebrachte Strategien gegen die Angst vor der eigenen Sterblichkeit – wie Nation und Familie: „Dank der Unsterblichkeit der Nation, zu der alle sterblichen Leben beitrugen, quälte uns die absurde Sinnlosigkeit individueller Sterblichkeit nicht länger“, meint Bauman. Und das Gefühl der Nationalitätszugehörigkeit hat einen großen Vorteil: Es ist für alle verfügbar und umsonst. Überliefert ist das berühmte Zitat des Leiters des Musikkorps beim Untergang der Titanic, der den Todgeweihten zurief: „Be british, boys!“ – als letzte Vergewisserung, für ewig Teil eines unsterblichen Größeren zu sein.

Auch die Familie ist für Bauman eine „kollektive Lösung für die Pein der individuellen Sterblichkeit“. Die Generationenfolge vermittelt das Gefühl, vergängliches Glied in einer jedoch unvergänglichen Kette zu sein. Die Familie ist das größere Ganze, in dem man geborgen und erinnert wird, in der man nicht nur die eigenen Gene, also den eigenen Körper, sondern auch Traditionen und Werte weitergibt. Doch mit den Strategien von Nationalität und Familienzugehörigkeit ist es angesichts der bröckelnden nationalen Kompetenzen und hohen Scheidungsraten nicht mehr weit her.

Aber nicht nur das Scheitern dieser alten Strategien stürzt die Menschen in Ungewissheit. Auch das Fehlen von kollektiven Werten, von öffentlichen Zusammenhängen sorgt für ein Gefühl der „sozialen Ortlosigkeit“. Die Massenmedien bieten dagegen einen trügerischen neuen Diskurs an: die Privatsphäre breitgetreten in Talkshows und Boulevardpresse. Bauman bezeichnet die voyeuristischen Talks im Fernsehen über Liebe und Hass als „Enteignung“ des Privaten, die aber „im Gewand der Bereicherung“ auftreten.

Das Öffentliche besteht also „nur noch aus einer Anhäufung privater Schwierigkeiten, Sorgen und Probleme“, für die aber „keine kollektiven Lösungen“ in Aussicht gestellt werden. Damit wird umgekehrt auch das Öffentliche seines eigenen „separaten Inhalts“ beraubt, etwa der politischen Diskussion über neue Strategien zum Umgang mit Ungewissheit.

Auch Bauman bietet dafür letztlich keine neuen Lösungsvorschläge an, sondern alte Rezepte und frische Begriffe: ein garantiertes Grundeinkommen für die Armen etwa als eine Bedingung für die „Wiedergeburt einer wahrhaft reifen Staatsbürgerschaft“ mit Individuen ohne Existenzangst.

Bauman sucht auch ein neues Modell des Menschen. Künftig habe der „modulare Mensch“ seinen Auftritt, glaubt er und bemüht als Vergleich dafür die Möbelindustrie, die Schrankwände oder Regale mit variablen Einzelteilen, Modulen, anbietet.

Ebenso wie die variablen Möbel ist der „modulare Mensch“ vielfältig, aber immer nur zeitlich begrenzt einsetzbar. Der „modulare Mensch“ engagiert sich dementsprechend in „befristeten Ad-hoc-Vereinigungen mit präzis bestimmtem Ziel“: Lichterketten, großen Demonstrationen gegen Fremdenfeindlichkeit oder Umweltkampagnen. Eine große neue Strategie gegen die Machtverhältnisse hat Bauman damit nicht zu bieten. Wie auch in seinen früheren Büchern schafft er jedoch in seinen Exkursen über Privates und Öffentliches, Nation und Ideologie immer wieder überraschende Inseln der Erkenntnis.

BARBARA DRIBBUSCH

Zygmunt Bauman: „Die Krise der Politik. Fluch und Chance einer neuen Öffentlichkeit“. Hamburger Edition 2000, 300 Seiten, 48 DM