Gefriereiferer und Kälteinstitute

Der Vater, ein Kälteforscher, liegt vereist in der Tiefkühltrühe. Vordergründig bemüht sich die Ich-Erzählerin um eine Erklärung für seinen Zustand. Hintergründig sucht sie Aufschluss darüber, was mit der DDR passiert ist. Bei der Schriftstellerin Annett Gröschner gefriert selbst die Zeit: „Moskauer Eis“

von AURELIANA SORRENTO

Anfang Dezember des Jahres 1991 fährt Annja Kobe, 27, seit 1982 in Berlin wohnhaft, in ihre Geburtsstadt Magdeburg zurück. Ein Anruf aus dem dortigen Krankenhaus hat sie zum Bett ihrer kranken Großmutter gerufen. Die Enkelin bringt es nicht übers Herz, die Oma ins Pflegeheim zu geben. Sie holt sie nach Hause in ihr eigenes Bett, dann sucht sie die Wohnung ihres Vaters auf, den seit Tagen niemand gesehen hat. Als Annja die alte Kühltruhe im Abstellraum aufmacht, findet sie ihn darin. Ist er tot? Er liegt da, offensichtlich eingefroren. Ein Arm der Eismumie macht sich plötzlich selbstständig, schnellt mit einem Ruck nach oben, fällt wieder über den Rand der Truhe zurück.

Der Anfang von Annett Gröschners Roman „Moskauer Eis“ riecht ziemlich nach Schund. Ein Krimi in Hitchcock-Abklatsch-Manier? Wie geht es weiter mit dem gefrorenen Vater? Wer hat ihn in die Kühltruhe gelegt? Die Krimifragen erzielen umstandslos die beabsichtigte Wirkung, den Leser zum Weiterlesen zu animieren. Sicher hat die Autorin ihre Filme gesehen, ist über Griffe und Kniffe des filmischen Erzählens gut im Bild. Dem Leser gönnt sie bis zuletzt keine Antworten. Er kann nur mutmaßen. Am Ende steht ein mysteriöses Polizeiprotokoll, das die Sache verkompliziert, statt sie aufzulösen. Aber das Urteil des ersten Augenscheins muss man viel früher revidieren. Annett Gröschner hätte beinahe ein Meisterwerk geschrieben.

Beinahe. Auch wenn sie sich den „Prolog im eisgekühlten Zimmer“ hätte sparen können. Er strotzt vor Plattitüden der Art: „Wir waren im Wartestand“ und „Godot kam nicht um neun, nicht um zehn.“ Oder: „Wir tauschten das Geld gegen unsere Geschichte, mehr hatten wir nicht.“ Es ist allzu deutlich, was damit gemeint ist. Vermutlich hatte sich Annett Gröschner vorgenommen, den Nachwenderoman zu schreiben. Auf den Wink mit dem Zaunpfahl hätte sie dabei verzichten können.

Annja Kobe, ihr Alter Ego, deren Biografie sich in Geburts- und Umzugsdaten auffällig mit der der Autorin berührt, lungert im Hause der Großmutter herum, füttert und pflegt sie, stöbert zur Kurzweil in den Schubfächern der Familiengeschichte nach. Vordergründig ist sie um eine Erklärung bemüht für den sonderbaren Zustand ihres Vaters, den sie samt Kühltruhe in die Küche der Oma hat transportieren lassen. Hintergründig sucht sie Aufschluss darüber, was wirklich mit dem Land passiert ist, das sie in Magdeburg noch intakt hinterlassen hatte.

Es ist 1991, das wiedervereinigte Deutschland ein Jahr alt. Das Kälteforschungsinstitut, das Annjas Großvater Paul Kobe gegründet und dessen Leitung Annjas Vater Klaus übernommen hatte, ist gerade abgewickelt worden. Nach der Schließung hat Klaus’ Kollegin Luise Gladbeck Selbstmord begangen. Annja ist arbeitslos, sie muss bei der Nachbarin um Kohlen betteln, wenn sie die Wohnung der Oma ein wenig heizen will.

Und doch: Kein Gejammer, kein ostalgisches Klagegedöns, nicht einmal ein paar Stoßseufzer. Stattdessen jene besondere Form von Humor, die man „Nach-DDR-Komik“ nennen könnte. In Gröschners Roman kommt sie im Spannungsbogen zwischen zwei Aussagen zur Blüte: 1. „Ich war von einem extrem widersprüchlichen Vater gezeugt worden: Er liebte die DDR und hasste ihre führende Partei“; 2. „ ‚Bei uns im Institut sind sie jetzt dabei, aus grünen Tomaten Zitronat zu entwickeln, weil die frischen Zitronen in den Handel müssen‘, sagte Vater.“

Anekdötchenweise spult die Ich-Erzählerin ihre eigene Biografie ab und die ihrer Eltern und Großeltern: die Geschichte einer Familie, deren männlicher Teil aus Kälteforschern und Gefriereiferern besteht, wird anhand von Erinnerungsblitzen, Briefen, Fotos und Zeitungsausschnitten rekonstruiert. Gröschner puzzelt sie zusammen als scheckige Collage. Da blühen die Rosen, die Vater Klaus Mutter Barbara an einem Bahnhofsschalter kniend vor die Nase hielt, um sie zur Heirat zu überreden. Da prangt der sowjetische Kommandant Grischa Maslow und tut sich im Haus des Großvaters inmitten einer zweifelhaften Nachkriegsboheme an Fleisch- und Alkoholreserven gütlich. Da dämmert der Linoleumfußboden, auf dem Annja direkt aus dem Mutterleib gepurzelt wäre, hätte sie nicht eine zur Hilfe geeilte Hand davon abgehalten. Und vor allem die Eiskrem, die zu entwickeln Klaus Kobe angehalten war, nachdem die Forschungen des Kälteinstituts wegen Mittelknappheit eingestellt worden waren, pappt und glänzt überall.

„Moskauer Eis“ war ja das beste Gefrorene, das aus den Laboren des Magdeburger Kälteinstituts in die Produktion kam. Das Kind Annja hatte es nach dem Essen immer aus der häuslichen Kühltruhe genascht. Die erwachsene Annja arbeitete in Berlin in einer Eisfabrik und musste feststellen, dass die Hygienevorschriften zur Kühlhaltung der Ware, die Vater Klaus ewig und überall gepredigt hatte, in der Praxis nie eingehalten wurden. Und DDR-typische Versorgungsengpässe brachten es mit sich, dass das Eis mit geschmacksverderbender Margarine statt Butter hergestellt wurde. Nach der Wende verschwand das Moskauer Eis aus den Kaufhallen, Eisfabrik wie Kälteinstitut mussten über die Klinge springen.

Auf diese Weise werden vierzig Jahre DDR-Alltag nebst Ausblicken auf die ersten Nachkriegsjahre vor dem Leser ausgerollt. Während Annja Kobe herumsitzt, Oma versorgt und ihren gefrorenen Vater in der Kühltruhe beobachtet – vielleicht hat er seinen letzten Versuch am eigenen Leib anstellen wollen –, geschieht Merkwürdiges mit der Zeit. Sie dehnt sich aus, bläst sich auf, als schwirrten die Jahre wie Luftballons im Raum herum, und belegt sich mit einer Patina milchiger Eiskristalle, die die Bilder aus dem Gedächtnis zu verzerren scheint. Das Groteske des erzählten DDR-Lebens gleitet unmerklich in einen Traumzustand über.

Schießlich wandelt Annja durch die Stadt, als der Tag zur Neige geht. Es ist Weihnachten, anstelle der alten staatlichen Reklamen leuchten nun die Insignien des Wettbewerbs. Die Elbe fließt trübe dahin, vom Himmel tröpfelt Regen, mit Schnee vermischt, auf das Wasser. Jeder Augenblick, den die Heldin wahrnimmt, füllt sich mit Vergangenem. Auch die Gegenwart nimmt in solcher Verfassung eine andere Konsistenz an.

So ist es kein Sprung ins Fabelland, wenn Annja das verlassene Kälteforschungsinstitut betritt und es von Toten bevölkert vorfindet. Das Institut startet in den Kosmos, sagt ihr der Vater, den sie zu Hause in der Kühltruhe gelassen hat. Seit 1951 habe man daran gearbeitet, die Eiskremforschung sei nur Tarnung gewesen. Jetzt riecht es streng nach Science-Fiction. In Wahrheit aber dreht sich das Bewusstsein der Ich-Erzählerin funkensprühend um die eigene Achse. Wir können nicht anders, als ihr zu folgen, und landen bei einer Riege alter Kühlschränke, die auf dem Weg von Ost nach West durch die Stadt abgestellt wurden. Der Rest ist – Geschichte?

Annett Gröschner: „Moskauer Eis“.Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2000, 288 Seiten, 36 DM