„Wer kann das alles zusammenhalten!“

Ab in die dunkle Vertikalität der Archive: Cornelia Vismanns medienarchäologische Untersuchung verfolgt die Geschichte der Akte von den Botengängen des Römischen Reiches über die staatliche Großproduktion von Dokumenten im 18. Jahrhundert bis zu den Stasi-Unterlagen in der Gauck-Behörde
von FRIEDRICH BALKE

Nicht die Politik, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts Napoleon im Gespräch mit Goethe formulierte, nicht die Wirtschaft, wie Walther Rathenau ein Jahrhundert später erwiderte, sondern Akten bestimmen unser Schicksal. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt schließlich auch die Soziologie, dass alle kontinuierliche Herrschaft, wie sich Max Weber ausdrückt, „durch Beamte in Bureaus erfolgt“. Und er vergisst nicht hinzuzufügen, was die wohlfeile Bürokratiekritik bis auf den heutigen Tag nicht aufhört zu beklagen: „Unser gesamtes Alltagsleben ist in diesen Rahmen eingespannt.“

Die Rede von einem „Rahmen“ ebenso wie die bekanntere von einem „stählernen Gehäuse“, in dem unser Leben eingesperrt sei, unterschätzt allerdings eine paradoxe Wirkung aller schriftbasierten Macht: In dem Maße, wie sich die moderne Herrschaftsausübung immer rückhaltloser dem Prinzip der Aktenmäßigkeit aller Vorgänge verschreibt, stimuliert sie die Aktenproduktion in einem solchen Maße, dass sie den Zweck, zu dem Akten angelegt werden, regelmäßig hintertreibt.

Dieser Lage trägt bekanntlich, im Medium der Literatur, niemand so präzise Rechnung wie Franz Kafka. „Wer kann das alles zusammenhalten!“, ruft der Dorfvorsteher im Schloss aus, als er vergeblich in seinen Aktenbündeln nach dem Erlass sucht, der die Berufung eines Landvermessers betrifft und damit über das Schicksal K.s oder die „Existenz eines Menschen“, wie es im Roman heißt, „entscheidet“. Cornelia Vismann stellt nun ihrer Untersuchung „Akten. Medientechnik und Recht“ zu dem, was allem Recht (und Unrecht) vorausgeht und zugrunde liegt, ohne dass die Rechtswissenschaft deshalb diesem so gar nicht verschwiegenen Bereich ein besonderes Interesse entgegenbrächte, eine Analyse von Kafkas berühmter Parabel „Vor dem Gesetz“ voran.

Wenn es schon unmöglich ist, eine über die Jahrtausende hinweg verbindliche Definition der Akte zu geben, erfährt man etwas über ihre Wirksamkeit – Akte leitet sich nicht zufällig von lateinisch agere, handeln, ab –, indem man sich mit den Orten beschäftigt, an denen Akten entstehen, zirkulieren, archiviert oder der Vernichtung überantwortet werden. Was uns als mehr oder weniger „reines Recht“ begegnet, das lediglich in der Dimension seiner Geltung, seiner Wahrheit oder Vernünftigkeit befragt werden möchte, ist auf die Spuren hin zu untersuchen, die seine Fabrikation in ihm hinterlassen haben. Obwohl es sich über „seine“ Akten ausschweigt, hantiert das Recht unablässig mit ihnen und „erschafft sich daraus“: „In dem, was Akten nicht sind, sind sie für das System des Rechts konstitutiv.“

Als im 19. Jahrhundert Historiker in die „dunkle Vertikalität“ (Foucault) der Archive hinabsteigen, um die dort gelagerten Akten zum Sprechen zu bringen, also zu erzählen, „wie es wirklich gewesen ist“, hatte die Akte bereits eine höchst wechselvolle Geschichte durchlaufen. Vielleicht liegt ein Paradox der Studie von Cornelia Vismann darin, dass sie sich ohne viel methodisches Federlesen an die Erzählung dieser Geschichte macht, die eine der „längsten Dauern“ umfasst und dennoch auf wenig mehr als 300 Seiten abgehandelt werden kann. Auch hat diese Geschichte, wie jede gute Geschichte, in Übereinstimmung mit den Vorgaben der aristotelischen Poetik einen Anfang, eine Mitte und einen (vorläufigen) Schluss.

Alles beginnt, wie für eine Rechtswissenschaftlerin nicht anders zu erwarten, mit Rom, dem absoluten Referenzpunkt abendländischen Rechts. Die römische Geschichte lässt sich zu einem gut Teil als Effekt der Bedeutungsverschiebung von Akt zu Akte begreifen. Für die Römer ist, einem berühmten, von Carl Schmitt gebrauchten Wort, das Beste in der Welt ein Befehl. Das Reich reicht so weit, wie seine Boten reiten, die die Befehle überbringen. Ihr kommunikativer Erfolg hängt von ihrer linguistischen Kompetenz ab, Latein bei all denen hörbar zu machen, die es nicht sprechen. Die von Boten vollzogenen Akten sind mündliche Handlungen, darüber hinaus legen die Magistrate bereits früh Notizbücher an, um sich im Streitfall daran erinnern zu können, welche Dekrete sie einmal erlassen haben. Nachdem Depots für die Ablagerung von Akten eingerichtet worden waren, musste man nur noch die Unterlagen den Amtsträgern entwinden, zu deren persönlichem Gebrauch sie bislang gedient hatten. Erst die Verstaatlichung der Akten „schafft das Archiv als Instanz“.

Mit dem Übergang der Macht auf den römischen Senat sind es nicht länger Befehle, sondern Protokolle, die die Hauptmasse des Aktenbestandes ausmachen. Machtgestützte Akten müssen sich jetzt die Frage gefallen lassen, ob sie mit dem im Entscheidungsgremium gefassten Beschlüssen übereinstimmen oder unautorisierte Anmaßungen der „Exekutive“ sind. „Das Regime der Worttreue bricht an und wirft die Wahrheitsfrage auf.“

Befehle können nicht mehr einfach so ergehen, wenn sie nicht in Aktenwährung gedeckt sind. Das bedeutet aber nicht, wie man vermuten könnte, dass die Politik ziviler, also weniger „willkürlich“ wird. Im Gegenteil: Die Zahl der Befehle nimmt sogar noch zu, nach der Entmachtung des Senats darf nur noch einer – mit einer arbeitsteilig organisierten Kanzlei im Rücken – befehlen, dafür aber umso unerbittlicher: der Kaiser. Das Recht ist nicht länger eine Antwort auf Anfragen, sondern Produkt souveräner Setzung und nimmt daher die Gestalt von kaiserlichen „Konstitutionen“ an, die nur noch kodifiziert zu werden brauchen, damit der Traum aller Juristen von der Abschließbarkeit eines in Akten proliferierenden Rechts Wirklichkeit wird.

Die berühmte Kodifikation Kaiser Justinians ist nichts anderes als eine „Akte aus Akten“, die ihren eigenen Aktencharakter – die mediale Heterogenität des zusammengetragenen und synthetisierten Materials – verleugnet und ein „den aktuellen Machtkonstellationen entzogenes Geltungsprinzip des Rechts“ begründet. Wo immer bis auf den heutigen Tag Theorien des Rechts auf der Gegenüberstellung von „Faktizität und Geltung“ (Habermas) beruhen – also z. B. bei allen Rechtsphilosophen in der Nachfolge Kants –, geht es um die Fortsetzung der kaiserlichen Entrückung und Monopolisierung des Rechts mit anderen Mitteln. Die Theorien des „reinen Rechts“ rationalisieren lediglich die faktisch sich vollziehende Reinigung des juristischen Textkörpers von allen Gebrauchsspuren der Rechtsanwender.

Reiche, darin liegt kein geringer Trost, können untergehen, wie auch im Falle Roms geschehen. Mit seinem Fall verschwinden auch die Akten von der Bildfläche, an ihre Stelle treten Urkunden, deren kunstvolle Ornamentik den Wegfall zentraler Aufbewahrungsorte ersetzen muss. Urkunden müssen sich gewissermaßen selbst beglaubigen, weil Schreibagentur und Schriftprodukt nicht länger rückgekoppelt sind – und öffnen, wie kaum verwunderlich, Fälschern Tür und Tor. Nie war die juristische Wahrheit problematischer als im vermeintlich so glaubensfrommen Mittelalter.

Aber die Frist zwischen dem Untergang des Römischen Reichs und der Entstehung des neuzeitlichen souveränen Staates, der wesentlich „Aktenmaschine“ ist, währt nicht allzu lang. Die Akten kommen wieder, und zwar mit mehr Macht als jemals zuvor – diesmal hat man sogar den Eindruck, als vermöchten sie alle säkularen Umbrüche unbeschadet zu überdauern, vor allem den durch die Französische Revolution markierten. Statt die Akten zu vernichten und ihre weitere Führung zu unterbinden, wie für einen kurzen Augenblick in der französischen Nationalversammlung erwogen, geschieht das gerade Gegenteil. Die Altakten, die nicht länger in Verwaltungen zirkulieren, werden, grob gesagt, der wissenschaftlichen Forschung überantwortet, während sich das Prinzip der exhaustiven Verdatung – Tabellen und so genannte Staatstafeln bringen seit dem 17. Jahrhundert das Wissen des Staates über Land und Leute hervor – nicht mehr nur in staatlichen Stellen verkörpert, sondern zum eigentlichen kategorischen Imperativ für jedermann wird.

Im Zeichen von „Selbstverwaltung“, wie sie nach 1800 die preußischen Reformer denken und verwaltungstechnisch implementieren, werden alle alphabetisierten Untertanen tendenziell zu Schreibern und Dichtern, mit anderen Worten: zu Sekretären ihrer selbst, auch Autoren genannt. Dichtung um 1800 heißt ja im Wesentlichen, Handlungen oder Akte auf Motive ihrer Akteure zurückführen, die zu diesem Zweck mit einem reichen Innenleben ausgestattet werden müssen. Taten – in der Literatur wie vor Gericht – werden seither aus ihren „Triebfedern“ beurteilt – und die Aktenführung hat sich darauf einzustellen. Akten dienen sich den entstehenden Humanwissenschaften als ihr „ruhmloses Archiv“ (Foucault) an. Akten werden aber auch selbst psychologisiert, indem sie das Andere des Gesetzes zu figurieren haben. Sie muss studieren, wer etwas über die Motive der Gesetzgebung erfahren will.

„Seine“ Akte einsehen muss aber auch, und hier springen wir in die Jetztzeit des wiedervereinigten Deutschlands, wer – wie nach dem Untergang der DDR – seine eigene Biografie aus jenen „Unterlagen“ rekonstruieren oder doch vervollständigen zu können glaubt, die ein Staat über seine als potenzielle Feinde behandelten Untertanen anlegte. In den Akten, so bestätigt noch das Stasiunterlagengesetz, hat der Staat, haben seine Bürger ihr „wahres“ Leben. Diese Vitalität der Akten – die im Fall der Stasiakten durch die Vor-Lesepraxis der vormaligen Gauck-Behörde noch gesteigert wird – bezeugen sämtliche Kämpfe um Akteneinsicht und Datenerhebungsbeschränkungen: „Der Staat legt Akten an, die Gesellschaft verlangt sie heraus.“

Das Problem mit den gesetzlichen Regelungen zur informationellen Selbstbestimmung ist nur, dass sie sich auf amtlich angelegte Akten beschränken, privat geführte Datensammlungen z. B. großer Unternehmen (wie Versicherungen) dagegen unberücksichtigt lassen. Wenn schließlich PC-User die Welt der Aktenführung auf dem Monitor ihrer Rechner wiedererkennen – man denke an die zu Icons stilisierten Akten, aber auch an die gesamte Befehlsnomenklatur –, dann zeigt das nur, dass die Epoche der Aktentechniken den Wechsel des Mediums, in dem sie sich ausprägen, offenbar mühelos überdauert.

Cornelia Vismanns Buch hält, was es im Vorwort verspricht. Und das ist nichts Geringeres als eine medienarchäologische Untersuchung der Akten seit den Zeiten des Römischen Reiches bis in unsere Tage. Als Leser weiß man nicht, was man mehr bewundern soll: die souveräne Handhabung von Wissensbeständen, die ganz verschiedene Disziplinen zur Verfügung stellen und deren Erschließung es bedarf, um Akten, genauer: ihre historisch variierenden medialen Generierungs- und Erscheinungsformen zu erforschen; oder die stilistische Eleganz, mit der es der Autorin stets gelingt, denkbar komplexe Gedankengänge, in denen sich die unablässige Metamorphose der Akten reflektiert, in eine aphoristisch zugespitzte Formulierung auslaufen zu lassen, die dafür sorgt, dass das ausgebreitete Wissenstableau nicht vor den Augen des Lesers verschwimmt.

Ob die Doktorarbeit, die das Buch einmal war, einen Preis erhalten hat, weiß ich nicht; das Buch, das aus der Doktorarbeit hervorgegangen ist, hätte jedenfalls einen verdient – für eine wissenschaftliche Prosa, die ihren für seine Trockenheit berühmten Gegenstand mit so viel hintergründigem Witz und Ironie behandelt, dass der Leser schon mal vergisst, dass es Akten und nicht etwa Romane sind, denen er seine atemlose Aufmerksamkeit schenkt.

Cornelia Vismann: „Akten. Medientechnik und Recht“. 359 Seiten, Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, DM 29,90

Zitate:Neuzeit:„Das Regime der Worttreue bricht an und wirft die Wahrheitsfrage auf“Informelle Selbstbestimmung:„Der Staat legt Akten an, die Gesellschaft verlangt sie heraus“