Kein Schönheitswettbewerb in Nizza

Auf dem EU-Gipfel streiten Briten und Franzosen über die europäische Verteidigungspolitik. Und auch die Osteuropäer sind nicht zufrieden: Ein Datum über den künftigen Beitritt gab es für sie nicht. Doch Bundeskanzler Schröder ist zufrieden

aus Nizza DOROTHEA HAHN
und DANIELA WEINGÄRNER

Der Gipfel an der Küste der Schönen und Reichen brachte den deutschen Kanzler ins Schwärmen: Ein „Schönheitswettbewerb in Kompromissbereitschaft“ sei das Treffen in Nizza. Tatsächlich lag schon gestern Nachmittag die Schlusserklärung über den ersten Teil des Treffens – die Bilanz des französischen Halbjahrs und die Europakonferenz mit den Kandidatenländern – vor. Letztere sei ein Erfolg gewesen – und so sollen in Zukunft auch die Balkanstaaten und die Efta-Länder daran teilnehmen.

Echten Diskussionen sind die Gipfelteilnehmer bisher jedoch aus dem Weg gegangen. Die meisten Kompromisse erreichten sie, indem sie die Probleme einfach vertagten. Dem heiklen Thema BSE etwa widmen die „Schlussfolgerungen“ ganze zehn Zeilen. Offen bleibt, ob das Verfütterungsverbot von Tiermehl, wie von den Agrarministern Anfang der Woche beschlossen, wirklich nur sechs Monate gelten soll. Deutsche und Franzosen sind für ein unbefristetes Verbot, damit die alternative Produktion pflanzlicher Eiweiße überhaupt in Gang kommen kann. Im Schlussdokument enthalten ist dagegen der für die Deutschen wichtige Passus, dass für die Kosten der Rinderkrise keine zusätzlichen Mittel bereitgestellt werden.

Unterschiedliche Vorstellungen gibt es weiterhin auch in Sachen europäischer Militärpolitik. Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac erregte nicht nur in Nizza Aufregung, als er von einer „unabhängigen europäischen Verteidigung“ sprach. In Washington warnte US-Verteidigungsminister William Cohen die Europäer davor, die Nato zu einer „Reliquie“ zu machen. Innerhalb der Union sorgte dann die britische Regierung dafür, dass die im November beschlossene Eingreiftruppe, die ab 2003 bis zu 60.000 Mann mobilisieren soll, nicht unabhängig von der Nato tätig werden kann.

Das Einsatzkommando für die Truppe, die Brüssel zu einem „vollwertigen Akteur“ auf der internationalen Bühne machen soll und auch für außereuropäische Interventionen gedacht ist, wird im Ernstfall entweder bei der Nato oder aber bei einem EU-Mitgliedsland liegen. Auf gar keinen Fall wird sie von der EU-Kommission übernommen werden.

Auch ihre Pläne zu einem gemeinsamen europäischen Vorgehen zur Verbesserung der Sicherheit auf See konnte die französische Ratspräsidentschaft in Nizza nur teilweise durchsetzen. Die beiden Umweltkatastrophen vor der französischen Atlantikküste allein in diesem Jahr – das Auseinanderbrechen des Öltankers Erika und der Untergang des Chemitransporters Ievoli Sun – reichten nicht aus, um die anderen EU-Partner von rigorosen Maßnahmen zu überzeugen. In den Schlussfolgerungen von Nizza ist zwar die Rede von der „beschleunigten Ausmusterung von Einhüllen-Öltankschiffen“ – doch fehlt ein verbindliches Datum, zu dem die EU-Häfen die schwimmenden Mülltonnen verbieten wollen. Auch zu der von Frankreich angestrebten Einrichtung einer europäischen Seefahrtsicherheitsbehörde kam es in Nizza nicht.

Erst Freitagnachmittag nahmen die Staatschefs das heikle Kapitel der Reform der EU-Institutionen in Angriff. Auch hier sollen wohl schnelle Kompromisse erreicht werden, indem man die eigentlichen Probleme vertagt: Das Prinzip „ein Land – ein Kommissar“ soll auf Wunsch der kleinen Länder „bis auf weiteres“ gelten. Erst wenn durch Beitritte neuer Staaten die Kommissare aus 20 Mitgliedsländern kommen werden, soll neu verhandelt werden.

Grünes Licht gibt es für ein vereinfachtes Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit. Unklar ist aber, ob die Kommission in den Bereichen, die den Kernbereich Binnenmarkt berühren, ein Einspruchsrecht erhält. Schröder betonte, dass die Möglichkeit einiger Staaten, sich enger zusammenzuschließen, die osteuropäischen Kandidaten zumindest etwas vom Druck der schnellen Integration befreien würde.

Die Kandidaten machten in Nizza allerdings einen wenig befreiten Eindruck. Sie hatten gehofft, die EU würde endlich ein Datum für die erste Erweiterungsrunde nennen. In der Schlusserklärung wird aber lediglich die Hoffnung geäußert, dass einige schon an den EU-Parlamentswahlen im Sommer 2004 teilnehmen können. Der deutsche Kanzler sagte außerdem zu, sie am so genannten Post-Nizza-Prozess intensiv zu beteiligen. In die Debatte über eine europäische Verfassung und die Neuverteilung der Aufgaben zwischen EU-Organen und Mitgliedsstaaten sollen nicht nur sie, sondern auch die breite Öffentlichkeit – zum Beispiel durch Hearings – mit einbezogen werden.