Stimme eines Individuums

Die Falle des Patriotismus müssen die chinesischen Intellektuellen vermeiden: Ihre Pflicht ist es heute vielmehr, den modernen Staatsmythos zu zerstören

von GAO XINGJIAN

Westliches Denken strömte erst nach dem Zerfall des Feudalreiches um die Zeit der Bewegung des 4. Mai 1919 für eine neue Kultur nach China. Erst dann bildeten die chinesischen Gelehrten eine von der politischen Macht relativ unabhängige Gesellschaftsschicht. Mit der Verbreitung westlicher politischer Ideen begann das individuelle Bewusstsein des modernen Menschen zu erwachen, zunächst vor allem als politisches Verlangen, demgegenüber der Wert individueller geistiger Betätigung stets sekundär blieb. Nur zehn Jahre später, in den von inneren Unruhen und ausländischer Invasion geprägten Dreißigerjahren, wurden die Gelehrten in die politischen Kämpfe zur Rettung von Vaterland und Volk involviert, so dass sie – ob bewusst, unbewusst oder unfreiwillig – entweder sich selbst zu Werkzeugen des politischen Kampfes machten oder von Parteigruppen instrumentalisiert wurden.

Obwohl die chinesische Intelligenz, die der chinesischen Gentry-Kultur entstammt, mehr oder weniger das Denken des westlichen Individualismus übernommen hat, konnte sie sich letztlich nie grundsätzlich des Einflusses der traditionellen chinesischen Ethik entledigen, die den Staat und die Nation in den Vordergrund stellt. Dieser tief verwurzelte Patriotismus ist die größte psychische Barriere, die chinesische Intellektuelle daran hindert, unabhängig zu sein und den Wert des Individuums anzuerkennen.

Nur einer Minderheit, die ins Ausland ging, gelang es, diese Einstellung abzulegen. Sobald sie aber von patriotischen Gefühlen ergriffen wurden, eilten sie zurück in die Heimat, fanden sich erneut in Kalamitäten und wurden zutiefst pessimistisch. Der Patriotismus bildet meiner Meinung nach für die chinesische Intelligenz wirklich eine Falle, dieser „China-Komplex“ ist eine psychische Krankheit, von der sich die chinesischen Intellektuellen befreien müssen.

Die chinesische Intelligenz hat niemals klar und deutlich Staatsvorstellung und individuelles Bewusstsein voneinander getrennt. Bei der Auslegung der Menschenrechte ist sie beim Recht auf Existenz stehen geblieben, für die Ausdehnung der Freiheit persönlicher geistiger Betätigung ist sie nur äußerst zaghaft eingetreten – dies ohne Frage auch aufgrund der Unterdrückung von Individualität durch die traditionelle chinesische Kultur. Konfuzianische Gelehrte zogen eher den Märtyrertod vor, als sich erniedrigen zu lassen. Hier kam die moralische Integrität, die mit den ethischen Normen von Loyalität und Kindespietät in der Staatsmonarchie zusammenhängt, zum Tragen. Für eine überzeugende Doktrin stirbt sich’s unerschrocken, selbst einer Lehre aus dem Westen wird der Glanz traditioneller Moral verliehen, ist sie erst einmal zu einer Anleitung für die Rettung von Volk und Vaterland geworden. Der Etatismus Tschiang Kai-scheks und der Kommunismus Mao Tse-tung griffen ja beide zurück auf die ethische Tradition des chinesischen Feudalreiches. Der nur schwach entwickelte Individualismus der chinesischen Intelligenz war, konfrontiert mit dem absoluten Staat, nur schwer in der Lage sich zu behaupten.

Die Pflicht der chinesischen Intelligenz ist es heute, so meine ich, den modernen Staatsmythos zu zerstören. Die Anerkennung der Menschenrechte, insbesondere der Freiheit des Denkens, fällt gerade deswegen so schwer, weil der Patriotismus zu schwer auf der chinesischen Intelligenz lastet. Der Rekurs der politischen Staatsmacht auf den kollektiven Willen ist immer eine Restriktion, übersteigt sie aber einen bestimmten Grad, verletzt sie die grundlegenden individuellen Menschenrechte und schlägt in Unterdrückung um, egal, ob nun im Namen der Nation oder des Volkes.

Der chinesischen Intelligenz fehlte es ein halbes Jahrhundert lang nicht an Helden, die sich für Staatsmacht, Volk, gar für die Partei aufopferten. Aber nur wenige riskierten es, öffentlich für das individuelle Recht auf freies Denken und Schreiben einzutreten. Das Vaterland zu verraten und zum Feind des Volkes zu werden, war das größte Verbrechen. Dieser auf der Intelligenz lastende geistig-moralische Druck war – verglichen mit irgendwelchen Repressionen – noch schwerer auszuhalten.

Die chinesische Intelligenz bekämpfte mit großem Mut das feudale ethische System und die politische Macht der Bürokratie, aber, konfrontiert mit dem modernen Aberglauben des Staatsmythos, wusste sie weder ein noch aus. Der Grund hierfür ist, dass dieser Mythos dem nationalen kollektiven Unterbewusstsein entspringt und viel tiefer verwurzelt ist als jegliche ethische Manifestation an der Oberfläche. Nach dem Zusammenbruch des imperialen Feudalsystems hat sich die feudale Moral, die auf der Treue gegenüber dem Monarchen gründete, in einen patriotischen Nationalismus verwandelt, der über moralische Kräfte verfügt. Haben die Machthaber erst einmal die gesamte Propagandamaschine in Gang gesetzt, entsteht die falsche Vorstellung, das Individuum sei nicht mehr mit Personen konfrontiert, die die Macht innehaben, sondern mit dem Staat als ganzem oder mit einem abstrakten Kollektivwillen – und das auch noch im Namen der Nation oder des Volkes. Ein bekanntes Vorgehen totalitärer Politik.

Der Traum von einem unabhängigen, starken und reichen China hat die individuelle Gedankenfreiheit der chinesischen Intelligenz erstickt und das Bewusstsein der chinesischen Intelligenz als Gruppe von vornherein beeinträchtigt – als individuell geistig Schaffende haben sie sich nie von den anderen gesellschaftlichen Schichten abgegrenzt, sondern sich immer als Sprachrohr der breiten Volksmassen betrachtet und so ihre besonderen Rechte als Individuen vernachlässigt.

Die Kommunistische Partei begriff, sobald sie an der Macht war, mehr als die Intellektuellen selbst die Notwendigkeit dieser Abgrenzung – und degradierte sie als Schicht in ihrer gesellschaftlichen Stellung unter die der Arbeiter und Bauern. Nach 1949 machte die Kommunistischen Partei die Intellektuellen wirtschaftlich abhängig und erzog sie ideologisch um, „dem Volk zu dienen“, eine Politik, durch die die Intellektuellen ihre Fähigkeit einbüßten, unabhängig zu existieren. Sie wurden in ihrem Denken durch die immer enger werdenden, von der Partei festgelegten Dogmen beschränkt, schon ein geringfügiges Überschreiten der festgesetzten Grenzen zog strenge Bestrafung nach sich. Jede beliebige Kontroverse in der chinesischen Intellektuellenwelt wurde zu einem politischen Kampf.

Die totalitäre Politik erreichte ihren Gipfelpunkt in der Kulturrevolution; die Privatsphäre der Intellektuellen war nicht mehr garantiert, ihre persönliche Sicherheit jederzeit gefährdet. Von einem Widerstand der Intellektuellen konnte keine Rede sein. Selbst ein Ausweichen vor dieser allgegenwärtigen Diktatur war nahezu unmöglich. Dies geschah alles im Namen der Revolution; der kollektive Wille verkörperte sich im Führerkult um Mao Tse-tung. Alle Formen primitiven Kultes der Menschheit um Götter und Geister erstanden noch einmal in der Form von Nation, Staat, Partei und Führer. Und die einzelnen Intellektuellen waren weder Heilige noch Helden; bedroht durch das Kollektiv zeigten die Indviduen eine allgemeine menschliche Schwäche: in biologischen Instinkten gründende Furcht.

Die Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings in den 80er-Jahren führte zu einer Lockerung und zum Verlust der Kontrolle über Denken, Literatur und Kunst, wodurch die Intelligenz begrenzte Spielräume gewann, so dass im gleichzeitig stattfindenden politischen Kampf um Demokratie die Emanzipation des Individuums und ein neues Selbstbewusstsein erneut auf der Tagesordnung standen. Nietzsches Philosophie des Übermenschen und romantische Weltrettungsgefühle erlebten einen Aufschwung, und die chinesische Intelligenz spielte aufs Neue ihre historische Rolle als Volksheld oder als Opfer des Nationalstaats.

Zugleich entstand in der chinesischen Intelligenz eine weitere entpolitisierende Denkströmung: Nicht nur individuelle Existenz-, sondern auch geistige Betätigungsräume sollten erkämpft werden. Sie umfasst jedoch auch den politischen Kampf gegen öffentliche ideologische Kontrolle – in der Tendenz soll die Freiheit des Individuums vom Schicksal von Staat und Nation entkoppelt werden.

Zwischen politischer Meinung und Betätigung einerseits und dem geistigen Schaffen der Intelligenz andererseits existiert überhaupt kein diametraler Gegensatz, der Einzelne selbst muss die Wahl treffen, sich politisch zu betätigen oder sich der reinen Wissenschaft und Kunst zu widmen. Würde die chinesische Intelligenz jedenfalls erneut insgesamt in Politik involviert werden, dann liefe dies auf eine Wiederholung des Unglücks der Intelligenz seit der Bewegung des 4. Mai von 1919 hinaus.

Als nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens von 1989 zahlreiche chinesische Intellektuelle ins Ausland ins Exil gingen, bedeutete dies für sie eine Art Erwachen, konsequenter wäre jedoch ein Loskommen von der Besessenheit von China und einem damit verbundenen Zu- sich-selbst-Kommen. Geistiges Schaffen Intellektueller stellt eine individuelle Handlung dar, die das Individuum der Gesellschaft gegenüberstellt, die damit verbundene Einsamkeit ist jedoch viel realer als jene fiktiven Kollektive, unter welch klangvollen Namen diese auch daherkommen mögen.

Flucht ist natürlich kein Lebensziel, sondern lediglich ein Mittel, sich selbst zu schützen. Noch wichtiger ist aber die Flucht des Geistes vor dem Druck der Realität. Können die geistigen schöpferischen Aktivitäten des Menschen, auch die so genannte Kultur, sich nicht über die reale Existenz hinwegsetzen, welchen Wert haben sie dann?

Lässt das Individuum sich bei der Umsetzung seines Willens im historischen und aktuellen Umfeld nur von heroischer Leidenschaft und der Idee, die Welt zu retten, leiten und rekurriert nicht auf Rationalität, dann ist es kaum vermeidbar, dass es von einem National- oder Volkshelden zu einer politischen Grabbeigabe wird. Verlangte man dieses Martyrium auch von anderen, wäre dies nichts anderes als der kollektive Selbstmord der chinesischen Intellektuellen. Ob unter der Kollektivbezeichnung Nation, Vaterland oder Volk, eine Expansion des individuellen Willens oder ein grenzenloses Aufblähen des Ego-Bewusstseins wird immer im Radikalismus Gestalt annehmen und zum genauen Gegenteil führen, zu Freiheitsverlust und Selbstvernichtung.

Seit einem ganzen Jahrhundert hat die chinesische Intelligenz immer die Wahrheit im Westen gesucht. Der Kommunismus hat bereits seinen Bankrott erklärt; der Sozialdemokratismus sieht sich gegenwärtig vom Verfall bedroht, der traditionelle westliche Liberalismus behauptet sich noch, sieht sich aber auch schweren Krisen gegenüber. Auf der anderen Seite lebt der Nationalismus ungestüm auf. Es bleibt wie gehabt ein schwieriges Problem, ob die chinesischen Intellektuellen in der Überwindung der abergläubischen Staatsverehrung und im Kampf um politische Demokratie nicht erneut auf nationalistische Ideologien hereinfallen.

Im gegenwärtigen Zeitalter des Zusammenbruchs von Ideologien und der explosionsartigen Zunahme von Theorien wechseln die Strömungen und Moden immer rasanter, eine verlässliche Hauptströmung gibt es nicht mehr. Es lässt sich getrost, so meine ich, als ein Zeitalter ohne „Ismen“ bezeichnen, tritt doch anstelle der Entwicklung von Ideologien die permanente Änderung von Methoden. Für das Individuum gibt es wohl nur noch einen möglichen Standpunkt, den der Skepsis. Unter Skepsis ist hier eine Haltung zu verstehen, kein „Ismus“. Bei der Konstruktion einer eigenen geistigen Welt gilt dem Individuum der Zweifel mehr oder weniger als Standpunkt. Die Existenz des Ich artikuliert sich über Sprache, seine Affirmation nimmt nur darin Gestalt an, ob sie eine eigene besondere Sprache hat; das muss und kann man nicht weiter begründen. Das Individuum tritt aus dem dunklen Reich des Selbst mittels der Sprache in die Welt, so dass es mit anderen mehr oder weniger kommunizieren kann, und wenn das Individuum wunderbarerweise nicht getötet wird, sich nicht selbst umbringt oder verrückt wird, dann liegt dies an der Vernunft, die auf der Basis von Skepsis errichtet ist.

Dazu verdammt, eine letztendliche Wahrheit, ob diese nun Gott oder Jenseits heißt, nicht erreichen zu können, bleibt dem Individuum nur diese Erkenntnis. Das nenne ich Vernunft, und auch das ist kein Ismus.

Der hier stark gekürzt wiedergegebene Text ist enthalten in: Gao Xingjian: „Meiyouzhuyi“ (Ohne Ismen), Hongkong, 1996. Es handelt sich um einen Redebeitrag für eine Konferenz 1993 in Stockholm zum Thema „Staat, Gesellschaft, Individuum“.Übersetzung: Helmut Forster-Latsch, Marie-Luise Latsch und Gisela Schneckmann