Die Dekadenz des Unfertigen

In Berlin konstituiert sich eine neue Hautevolee. Eine Schickeria, die man bisher in Schwabing verortet hatte, redet sich die Hauptstadt schön. Am Wochenende traf man sich bei der Vernissage von Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein-Sayn

von KIRSTEN KÜPPERS

In den frühen 70er-Jahren gab es eine bekannte deutsche Fernsehserie. Sie hieß „Drei Damen vom Grill“ und transportierte der Welt ein realistisches Bild von Westberlin. Das Geschehen drehte sich um eine Currywurstbude, die von Taxifahrern, Fleischlieferanten und Rentnern bevölkert wurde. Diese waren genauso herzlich, schnauzig und proletarisch wie die Imbiss-Betreiberinnen selbst. Der Alltag, der hier gezeigt wurde, war klein, überschaubar und unbeweglich. Glamouröse Gesellschaften, wie man sie aus Münchner oder Hamburger Krimifolgen kannte, gab es im Fernsehen über Berlin nicht zu sehen.

Natürlich zeigen TV-Serien nicht die Wahrheit. Westberlin hatte auch zu Mauerzeiten mehr zu bieten. Doch anders als in München oder Hamburg fehlten hier tatsächlich Geld, schicke Kulissen, Jetset und eine repräsentative Highsociety. Bezeichnenderweise spielte die damalige Berliner Vorzeigeprominenz allesamt bei den „Drei Damen vom Grill“ mit: Brigitte Mira, Günther Pfitzmann und Harald Juhnke.

Seit dem Mauerfall ist Berlin groß und anders. Oft wird das Bild einer funkelnden „Metropole“ beschworen. Doch das Strapazieren des Begriffs sagt mehr über die Sehnsucht derjenigen aus, die ihn benutzen, als über die tatsächlichen Verhältnisse. Das neue Berlin hat sich längst noch nicht als klares Bild zusammengepuzzelt – geschweige denn seine Bewohner.

Trotzdem mehren sich vorsichtige Anzeichen dafür, dass sich die Berliner Gesellschaft von den Bouletten ab- und den Kaviarschnittchen zuwendet. Bei der Eröffnung des Sony-Centers am Potsdamer Platz, der Kunstpreisverleihung im Hamburger Bahnhof oder einfach nur am Tresen der Paris Bar: Die Berliner Society übt sich bei immer mehr Anlässen im Repräsentieren.

Am Wochenende war nach der Bambi-Verleihung vor allem die Vernissage von Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein-Sayn der elegante Ausgehtermin. Die Fotografien der 81-jährigen Fürstin werden in der Galerie der ehemaligen Bunte-Chefin Beate Wedekind ausgestellt. Die beiden Gesellschaftsdamen kennen sich noch aus Wedekinds Zeiten als Klatschreporterin. Die Fürstin, Urururenkelin der österreichischen Kaiserin Maria Theresia, fotografierte damals für Zeitschriften wie Bunte, Elle, Vogue und Gala die Treffpunkte der internationalen Gesellschaft.

Die Aufnahmen, die indes an diesem Abend vorgeführt werden, sind Privatfotos der Fürstin aus den Jahren 1938 bis 1968. Auch sie zeigen Oberschicht: schöne Schwarzweißzeugnisse perfekter Momente im Leben einer adligen Familie in Lambswool-Pullovern. Aufgenommen in Venedig oder am Strand von Marbella. Die jungen Prinzen und Prinzessinnen spielen Golf oder genießen das Sonnenbad an Deck einer Yacht. Für die politischen Ereignisse der Zeit scheinen sie unangreifbar. Spätere Fotos der Fürstin zeigen prominente Freunde wie Maria Callas beim Schnorcheln oder Tino Onassis bei einer Autopanne.

Vor den Bildern strengt sich das geladene Vernissage-Publikum an, mit dieser Grandezza mitzuhalten. Gepflegt frisierte Gäste begrüßen sich mit Küsschen. Karl Lagerfeld und Gunther Sachs sollen auch noch kommen, geht das Gerücht. Die Frauen tragen Chanel und Prada. Ein Mann führt einen grün gemusterten Paisley-Anzug vor, zwei kommen in bunten Turnschuhen, ein dritter hat einen Kapitänshut auf. Als modisches Accessoire dient mancher Besucherin eine lässig über die Schulter gleitende Pelzstola, andere haben ein rundes Hündchen dabei. Modehund der Saison ist der Mops. Ein Mann trägt sein Tier in einer Burberry-Tasche herum.

Viele Gesichter meint man aus dem Fernsehen zu kennen. Das Blitzen der Fotografen wird lächelnd mit Heben des Chardonnay-Glases quittiert. Der ehemalige Bahnchef ist da, genauso wie der Erfinder der Love Parade, die Klatschkolumnistin der Bild-Zeitung, die frühere Schatzmeisterin der CDU, der einstige Botschafter in Frankreich und die divenhafte Person, die immer auf Rollschuhen unterwegs ist. Von der Schauspielerin aus „Praxis Bülowbogen“ heißt es, sie ließe sowieso keine Gala-Veranstaltung aus.

Schick und Gepflogenheiten der Gäste sind indes weniger bemerkenswert als überhaupt die Anziehung, die Berlin zunehmend auf eine Bussi-Gesellschaft ausübt, die man bisher in Schwabing verortet hatte. Kreiste die frühere Berliner Elite um die immer gleichen Fixpunkte Filmproduzent Atze Brauner, Verleger Axel Springer und Diskokönig Rolf Eden, öffnet sich der Verein nun den neu angekommenen Sympathisanten.

Diese importieren ihren Lebensstil und zeigen sich plötzlich als richtige Hauptstadt-Fans. Zum Beispiel der kürzlich aus Stuttgart nach Berlin umgezogene renommierte Modedesigner Harald Glööckler. Mit weißem Anzug, Perlenketten und Glitzersternchen um die Augen posiert er bei der Sayn-Wittgenstein-Sayn-Vernissage selbstbewusst vor den Kameras. Zwar fehle es der Hauptstadt noch an Eleganz, bemerkt Glööckler. Er lobt aber die „Kreativitat und Explosivität Berlins“. Seine römische Bekannte Gina Lollobrigida habe ihm das auch bestätigt. „München ist tot“, findet Glööckler. „Und in Cannes und Nizza kann man auch nur herumsitzen.“

Ähnlich sieht es der chilenische Schriftsteller Carlos Franze. Er trägt einen hübschen bunten Schal und lebte vor einem halben Jahr noch in London und Washington. An Berlin schätzt er die „inspirierende Wirkung“. Städte wie London und Paris seien zwar stilbewusster, könnten aber mit den „kreativen Dialogen“ in Berlin nicht mithalten.

Auch Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein-Sayn selbst hat seit einer Veranstaltung des „Burgenvereins“ vor zwei Jahren die Hauptstadt neu für sich entdeckt. Zwar lässt sie nichts auf ihr „heiß geliebtes“ München oder ihre „liebe Heimatstadt“ Salzburg kommen, aber Berlin habe ja ein „ganz anderes Niveau“. „Diese herrlichen Gebäude! Diese Anlage der Stadt!“, meint sie. Man müsse Berlin als „große Kulturhauptstadt“ inzwischen einfach in einem Atemzug mit London oder Paris nennen.

So viel adeligen Enthusiasmus gab es für diese Großstadt bisher selten. Berlin galt immer als ein wenig zu dreckig. Freilich redet sich die feine Gesellschaft ihr Berlin mit euphorischen Formeln auch selbst schön. Weniger gut funktionieren muss der Mythos deswegen jedoch nicht.

Einigkeit darüber, was aus Berlin wird, wenn es denn mal vollbracht ist, herrscht allerdings auch bei der Hautevolee noch nicht. Galerie-Chefin Beate Wedekind preist deswegen lieber den momentanen Zustand: „Ich liebe die Dekadenz des noch so gar nicht Fertigen. Eine Straße, die stinkt vor Schweiß, ist einfach lebendiger als der Duft parfümierter Pärchen.“ Wer noch mehr vom Leben unparfümierter Menschen sehen will, kann den Fernseher einschalten. Die „Drei Damen vom Grill“ werden derzeit wiederholt.