DER EU-GIPFEL IN NIZZA HAT NUR KOSMETISCHE KOMPROMISSE GEBRACHT
: Europäische Erblasten

„Wir werden sagen, dass der Gipfel ein Erfolg war, weil wir das immer machen“ – spätestens nach diesem Ausspruch des schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson hätten eigentlich alle Anwesenden nach Hause fahren können. Denn beim Gipfel der Europäischen Union in Nizza war wirklich alles wie immer: Die europäischen Staatschefs stellten das Gesamtprojekt Europa hinter ihre nationalen Partikularinteressen zurück. Sie schraubten im Lauf von vier zermürbenden Tagen und einer Nacht ihre Maßstäbe für einen „Erfolg“ des Treffens ständig herunter. Und sie schlugen zu Beginn des Gipfels Pflöcke ein, die sie während der Gespräche verschämt und leise wieder aus der Verhandlungsmasse zogen.

Unerledigte Überbleibsel von Nizza werde es nicht geben, hatten im Vorfeld alle Regierungschefs beteuert. Schließlich steckt allen das Desaster 1997 in Amsterdam noch in den Knochen. Besser kein Vertrag als ein Discount-Vertrag – so tönten unisono Deutschlands Außenminister Joschka Fischer und sein französischer Kollege Hubert Védrine. Der für Reformfragen zuständige EU-Kommissar Michel Barnier teilte ihre Zuversicht. Michael Steiner, der außenpolitische Berater von Bundeskanzler Gerhard Schröder, verwahrte sich noch am Samstag in Nizza gegen eine „Rendezvous-Klausel“ bei der Neuordnung der Kommission. Mit anderen Worten: Diese Frage müsse auf dem Gipfel abschließend geklärt werden, ein weiteres Treffen hierzu dürfe es nicht mehr geben.

Im Vertragstext aber ist die Rendezvous-Klausel doch wieder enthalten: Sobald die Union auf 27 Mitglieder angewachsen ist, soll neu über die Kommissionsgröße und ein Rotationsverfahren für deren Besetzung verhandelt werden. Die Klausel ist ein Überbleibsel – aber keineswegs das einzige. Auch der Anspruch, Mehrheitsentscheidungen zum Regelfall im Rat zu machen, ist nicht eingelöst worden. In allen Bereichen, die vor Nizza strittig waren, gibt es allenfalls kosmetische Kompromisse – und so ist auch hier die Tagesordnung für Post-Nizza vorprogrammiert.

In den Post-Nizza-Prozess, so betont die gestern verabschiedete Erklärung, sollen die Kandidatenländer einbezogen werden. Sie würden es auch nicht akzeptieren, ein weiteres Mal am Rand zu stehen, wenn über Europas Zukunft geredet wird. Aus der Perspektive künftiger Reformkonferenzen könnte Nizza dann zu den kürzeren Gipfeln zählen. Denn wenn dann 27 Mitgliedsstaaten das versuchen sollten, was gerade 15 nicht geschafft haben, dann wird es mindestens acht Tage und zwei Nächte dauern, bis die nächste Vertragsversion steht. Und bis die nächste Liste europäischer Erblasten produziert ist. DANIELA WEINGÄRTNER