„Ich werde mich dafür stark machen“

Heide Rühle, für die Grünen im Europaparlament, kritisiert den Vertrag von Nizza, will ihm aber dennoch zustimmen. Denn jede Verzögerung behindert auch die Osterweiterung. Und diese ist für weitere Reformen der EU notwendig

taz: Frau Rühle, gibt es etwas Positives im Vertrag von Nizza?

Heide Rühle: Ja. Gut ist die Festschreibung des Post-Nizza-Prozesses. Nun ist klar: Wir brauchen eine eindeutige Aufgabenverteilung zwischen den Nationalstaaten und Brüssel und eine Verfassung für Europa. Doch es ist nicht gelungen, die Brüsseler Institutionen zu demokratisieren. Die EU ist nicht handlungsfähiger geworden.

Das Europäische Parlament (EP) soll nun 740 statt 626 Abgeordnete haben.

Das halte ich für richtig. Wir haben viele kleine Mitgliedsländer. Dort käme der demokratische Prozess zu kurz, wenn kleine Parteien nicht ins EP kommen. Unter einem Parlament, in dem nur große Parteien vertreten sind, leidet auch die Legitimation der EU-Institutionen.

In einigen Bereichen kann das EP nun mit entscheiden.

Ja, und das begrüßen wir vor allem beim Asylrecht. Europa braucht eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik. Ansonsten hat das Parlament kaum mehr Rechte. Ich bedauere das vor allem bei Fragen der Ökologisierung des Steuerrechts.

Bei einigen Bereichen des Außenhandels ist das Vetorecht gefallen. Das wird von NGOs kritisiert. Sie befürchten eine beschleunigte Globalisierung.

Nein, die Entscheidungen sind richtig. Gegenüber Drittländern muss die EU mit einer Stimme sprechen, zum Beispiel bei WTO-Verhandlungen. Mangelhaft gelöst ist jedoch die Informationspflicht des Parlaments in dieser Frage. Auch das Mitenscheidungsrecht fehlt.

Im Rat wird nun mit „dreifacher Mehrheit“ abgestimmt. Wer blickt da eigentlich noch durch?

Der Präsident der Kommission, Romano Prodi, wurde gestärkt. Er hat nun Richtlinienkompetenz, das ist gut. Der Rat dagegen hat sich selbst geschwächt. Wir haben nun ein so kompliziertes Verfahren, dass kaum jemand die Abstimmungsprozesse verstehen wird.

Blockiert Europa sich damit nicht selbst?

Ja. Das ist die große Gefahr.

Das könnte der nun beschlossenen „verstärkten Zusammenarbeit“ besonders integrationswilliger Staaten zuarbeiten.

Eben. Da es so schwer werden wird, Kompromisse zu finden, werden eben einzelne Staaten enger zusammenarbeiten. So entsteht die Gefahr, dass bei sozialen oder ökologische Fragen ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten entsteht, also eine Spaltung. Vor allem für die Osterweiterung ist das problematisch. Je mehr Staaten mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in der EU sind, umso stärker ist die Versuchung, Probleme zu lösen, ohne eine gemeinsame Linie zu finden.

Hätte Nizza überhaupt einen Erfolg bringen können?

Nur wenn die großen Staaten ihre Interessen zurückgestellt hätten. Daher muss man nun aus Nizza lernen. Eine solche Regierungskonferenz, in der die Mitgliedsstaaten sich gegenseitig blockieren, darf es nicht wieder geben. Künftig muss das Parlament stärker beteiligt werden.

Sollte das EP den Nizza-Vertrag also ablehnen?

Nein. Denn jede weitere Verzögerung bedeutet auch eine Verschiebung der Osterweiterung. Und letztendlich erhoffe ich mir von der Erweiterung auch mehr Reformen. Ich werde mich daher in meiner Fraktion für den Vertrag stark machen. Ich weiß aber nicht, ob ich auch eine Mehrheit finde. Große Teile des EP werden gegen den Vertrag stimmen. Es wird knapp.

INTERVIEW: SABINE HERRE