Europas Sterne fallen

Der EU-Gipfel in Nizza endet mit halbherzigen Beschlüssen. Vereinbart wird die verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern. Was als Reform erscheint, droht Europa zu spalten

BERLIN taz ■ Katerstimmung nach dem EU-Gipfel in Nizza. Überraschend fand einer freundliche Worte des Lobes: Der CSU-Chef Edmund Stoiber begrüßte „wesentliche Fortschritte“ – doch mit seiner Einschätzung stand der Bayer gestern ziemlich allein.

Nizza war mehr als nur ein weiterer Gipfel der EU mit schlechtem Ergebnis. In Nizza wurden die Grundlagen für die Spaltung der Union gelegt. In Nizza wurden alle drei Brüsseler Gremien – Ministerrat, Kommission und Parlament – geschwächt. Trotz dieser schlechten Ergebnisse wurde deutlich: In wenigen Jahren wird zu EU-Europa auch Osteuropa gehören.

Doch der Reihe nach: Die Staats- und Regierungschefs der EU wollten mit dem Vertrag von Nizza die EU fit für die Aufnahme von mindestens 12 weiteren Staaten machen. Dazu sollte die Kommission im Jahre 2010 nicht mehr als 20 Mitglieder umfassen. Darüber hinaus sollten in Nizza alle, wirklich alle strittigen Gipfelthemen abgearbeitet werden, „Left-overs“, Überbleibsel, sollte es auf keinen Fall geben. Und nun: Über die Größe der Kommission wird erst entschieden, wenn die Zahl der Kommissare auf 27 angewachsen ist, weder die gewünschte künftige Mitgliedszahl noch ein Datum für die Verkleinerung werden genannt. Als Sieger kann sich eigentlich nur einer fühlen: Romano Prodi, der Kommissionspräsident. Er erhält eine Richtlinienkompetenz und wird damit so etwas wie der Kanzler Europas.

Die Staats- und Regierungschefs wollten erreichen, dass in wichtigen Politikbereichen künftig mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird. Tatsächlich hat man sich auf einige dieser Bereiche – wie etwa die Asylpolitik – geeinigt. Zugleich jedoch wurden sie mit einem „Zeitschlüssel“ versehen, was nicht viel weniger ist als ein weiteres Überbleibsel: Später muss erneut entschieden werden.

Allerdings führt der Begriff der Mehrheitsentscheidung in die Irre. Es ist ja nicht so, dass jeweils mehr als 50 Prozent der Mitgliedsstaaten einer bestimmten Vorlage zustimmen müssen. Abgestimmt wird im Rat von nun an nach dem Prinzip der „dreifachen Mehrheit“. Eine Entscheidung ist dann gültig, wenn sie erstens mindestens 74,6 Prozent der 345 Länderstimmen, zweitens eine einfache Mehrheit der Staaten und drittens 62 Prozent der Bevölkerung hinter sich hat.

Während es künftig also immer schwerer wird, Mehrheiten zusammenzubekommen, ist es zugleich für Staaten, die eine „verstärkte Zusammenarbeit“ anstreben, einfacher geworden. Das gleichnamige Prinzip war das Reformvorhaben, über das sich die Mitgliedsstaaten bereits vor dem Gipfel einig waren. Doch was auf den ersten Blick als Königsweg aus all den europäischen Blockaden erscheint, wird sich als etwas ganz anderes erweisen: als ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, ein Europa, zersplittert in Gruppen, die die verschiedensten Interessen verfolgen.

Fit für die Erweiterung ist die EU nach Nizza nicht. Nur: Für die osteuropäischen Kandidaten scheint dies keine Rolle zu spielen. Sie haben die Ergebnisse des Gipfels freudig begrüßt. 2002, so das Schlussdokument von Nizza, will die EU aufnahmefähig sein. Nach dem rund 15-monatigen Prozess der Vertragsratifizierung könnte die erste Gruppe der Kandidaten sich bereits an den Wahlen zum Europaparlament 2004 beteiligen.

Doch wollen sie sich nicht in einem vielfach geteilten Europa wiederfinden, müssen sich Warschau, Prag und all die anderen schon jetzt an der Debatte über die zukünftige Verfassung Europas beteiligen. Im Post-Nizza-Prozess müssen die Beschlüsse von Nizza korrigiert werden.

SABINE HERRE

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