Dvoráks Neunte wie neu

■ Wie das Bremer Staatsorchester Musikfestgröße erreichte

Die russische Komponistin Sofia Gubaidulina hat einmal gesagt, ihr Handwerk habe sie beim Komponieren von Filmmusik gelernt. Konkret meinte sie die dort geforderte Exaktheit der Schnitte, der Anschlüsse, die Präzision der Geste auf kleinstem Raum. Viel zu wenig ist bekannt, wie viele große Komponisten Filmmusik geschrieben haben. So war es hochinteressant, im letzten Philharmonischen Konzert, der Hamlet-Musik von Dimitri Schostakowitsch zu begegnen.

Schostakowitsch und sein Kollege Serge Prokofieff haben die Musik zu berühmten Filmen gemacht – so zum Beispiel Prokofieff die zu Eisensteins „Ivan der Schreckliche“. Schostakowitschs rhythmusgeladene Hamlet-Musik zum Film von Grigorij Kozincev ist 1963-64 komponiert. Der Dirigent des Abends, der 2002 scheidende Generalmusikdirektor (GMD) Günter Neuhold, kombinierte eine Fassung aus der Suite und der ursprünglichen Filmmusik. Die kleinen Stücke stellen hohe Anforderungen an die Bläser, kennzeichnen deutlich die vorgegebenen Szenen und Atmosphären wie Schlossmusik oder Ball. Eine äußerst intensive, selbständige sinfonische Größe erreicht jedoch allein „Duell und Hamlets Tod“ – von Neuhold und Co. mit bohrender Suggestivität und Klangwucht gestaltet.

Die folgende Seichtigkeit ließ man sich gerne gefallen, weil sie einen vielversprechenden Cellisten präsentierte. Der spielte so schön, dass es ganz egal war, was er spielt. Nur so kann man die dümmlichen Rokoko-Variationen von Peter Tschaikowski ertragen: Der 24-jährige Claudio Bohórquez (Schüler von David Geringas und Boris Pergamentschikow) spielte wohl eins der schwersten Werke für Cello traumhaft sicher, tonschön und gänzlich unaufgesetzt. Die Begeisterung des Publikums belohnte er mit zwei Bach-Zugaben.

Die anschließende Wiedergabe der neunten Sinfonie „Aus der neuen Welt“ von Antonín Dvorák hatte Musikfestgröße. Die Gefahr bei diesem dauerexplosiven, aus der amerikanischen und vor allem indianischen Folklore gespeisten Werk ist, dass es von den Konturen und den Strukturen her aus der Fassung geraten kann, weil ein Wahnsinnscrescendo das andere jagt. Nicht jedoch bei Neuhold, der es überragend verstand, ständig Transparenz zu wahren, Stimmen hören zu lassen, die man meint, noch nie gehört zu haben, das ganze derart konturenreich zu zelebrieren, dass geradezu szenische Imaginationen aufkamen: So schien die fast religiöse innere Ruhe des zweiten Satzes in einer längst fernen Welt zu liegen. Berstende Lebensfreude im Scherzo und nicht endenwollende Vitalität im letzten Satz: eine Riesenleistung von Orchester und Dirigent.

Man mag noch gar nicht so ganz glauben, dass die Ära des GMD Neuhold allmählich zu Ende geht. Auf die ab 2002 freie Stelle haben sich 55 Kandidaten beworben.

Ute Schalz-Laurenze