Der ganz lange Marsch

Wahre Lokale (49): die auch tagsüber dunkle „Molle“ im Berliner Wedding

Im Oktober 2000 war die „Molle“ am Berliner S-Bahnhof Wollankstraße einige Wochen geschlossen. Ungewöhnlich für ein Etablissement, das üblicherweise 24 Stunden am Tag geöffnet ist und dem Alki mit Vormittagsdurst auf Schultheiss ebenso offen steht wie den Nachtjacken aller Temperamente und Bildungsstufen. Die Rollläden waren runtergelassen, und die Stammkunden gingen ins gegenüberliegende „Bogenhanf“ oder in die Weinstube beim Italiener Wollank-/Ecke Steegerstraße. Was war passiert? Schlimmes! Tagelang hatte der Highlander, der wie der Fliegende Holländer alle paar Jahre in der „Molle“ auftaucht, den Laden tyrannisiert, mit Whiskeyflaschen durchs Lokal geschmissen, dass das Hartholz der Wandverkleidung Dellen bekam, und die Fenster eingeworfen, dass die Skatspieler abhauten, weil es zog und ungemütlich wurde.

Obwohl, ungemütlich kann die Kneipe, die offiziell „Tanjas Molle“ heißt, auch in normalen Zeiten sein. Wer durch ihre Tür geht, muss sich auf vieles gefasst machen. Dass es zum Beispiel nichts zu essen gibt, keine Bockwurst, keine Boulette, nur flüssiges Brot, und das reichlich. In dem großen Zimmer mit seinen fünf Tischen herrscht jenes berühmte Rembrandtbraun, wie es so vielen Kaschemmen in Berlin eigen ist. Der Stammtisch ist seit Jahren eine dicke Kabeltrommel, auf der man nicht Karten spielen kann. Hinter der Theke stehen junge, etwas dickliche, aber dennoch bewegliche Madams, die ihren ersten Frühling hinter sich haben. An den Tischen sitzen junge Männer, deren Herkunft und Hinwendung sich der Fantasie entziehen. Einer von den Jungmännern hat eine Blonde auf seinem Schoß, seine Hand greift in ihr Ungefähres.

Die „Molle“ liegt im Wedding, wo Kneipen so einladende Namen haben wie „Kachel-Eck“ oder „Präpel-Eck“. Warum geht man in solche Kneipen? Vielleicht um zu spüren, dass man aus einer anderen Welt kommt beziehungsweise in eine andere geht. Aus der anderen ist der Pankower Maler und Grafiker Manfred Butzmann zum ersten Mal im Frühsommer 1990 in die „Molle“ gelangt. Das Problem der Bierpreise nach der Währungsunion hatte ihn unruhig gemacht. „Sinnigerweise war der Tresen damals mit Hartgeld beklebt aus vieler Herren Länder, aus Ost und West. Natürlich griff man immer wieder danach, doch der gute Zweikomponentenkleber war stärker ... Blitzschnell schoss es mir beim Abwischen des Bierschaums nach dem ersten Schluck durch den Kopf: Zehnmal teurer wird jetzt das Bier“, schrieb er in seinen Erinnerungen zum Jahrestag der Kneipe. Bier als Vorlauf für Kommendes, buchstäblich. Butzmann klebt von da an fest in der „Molle“, die seine Stammkneipe aus Dankbarkeit wird.

Letzten Samstag sitzen wir wieder mal drin. Es ist fußkalt, leer, bis auf einige volle Anwesende. Einer taumelt an unseren Tisch. Setzt sich, redet auf uns ein, nervt mit diesem Landowskysound, wie er in dreißig Jahren Westberliner Insel erblüht ist. „Ich mal dich jetzt, damit de stille bist“, sagt Butzmann, macht ein Aquarell und zeigt es dem Säufer mit dem Angebot: „Erschrick nicht!“ Der sagt zu meiner Liebsten, die mal wieder mitgekommen ist: „Du siehst jar nich wie ne richtije Frau aus.“ Und schiebt ab. Butzmann hat im Laufe der Jahre die „Molle“ zu seinem Wohnzimmer gemacht. An den Wänden hängen Zeichnungen von Kellnern und Gästen, den Uwes und Meickis und wie sie alle heißen. „Wer isn dit?“, fragt es am Nachbartisch. „Een Mala, der kann jut und ähnlich maln.“ Aus dem Musikautomaten greint Bob Dylan. An der Wand steht eine Marlene-Dietrich-Figur, die untenrum Dessous zeigt. Als der Highlander wütete, hat die Wirtin Marlene mit in ihre Wohnung genommen. Der Highlander ist weg, und Butzmann sitzt in seiner Bierstube und schreibt Tagebuch. Heinz kommt rein, ein alter Dachdecker mit großem Durst und offenen Beinen. Wie müssen die Wohnzimmer der Gäste sein, dass sie gern in diese Höhle an der Wollankstraße kommen? Wenn sie voll ist, kommt Stimmung auf. Nachts soll eine Polin nackt getanzt haben. Wenn leicht angesoffene Gäste zur Musik der 100 CDs im Spielautomaten tanzen, kann sie schon mal ein Kampfhund in den Hintern knuffen.

Manfred Butzmann jedoch ist festen Willens und Glaubens, diesen Proletariertreff im künftigen Regierungsbezirk zu einer Künstlerkneipe zu verwandeln. Ein ganz langer Marsch, begleitet von vielen kleinen und großen Hellen. Erste Erfolge sind zu melden: seine Plakate und Zeichnungen an den Wänden, die Bilder des vergangenen Sommer beim Baden ertrunkenen Fotografen Christian Borchert, Bilder von John aus Schottland und von Rolly Neumann aus Kreuzberg. Über allem das schöne rote Plakat: „Arbeiter, meidet den Schnaps! Mit jedem Gläschen, das ihr trinkt, verleiht ihr dem Staat und der herrschenden Gesellschaft Mittel zu eurer Knechtung, und, was schlimmer ist, ihr betrügt euch selbst. Jeder Alkohol ist Steuerzahlung!“

Hinter meinem Stuhl hängt ein Foto von Heinrich Zille. Vielleicht suchen wir in der „Molle“ ein Milieu, das es weder im Osten noch im Westen Berlins mehr gibt und das wir nur aus Filmen der Zwanzigerjahre kennen. Am Tresen liegt übrigens Otto Nagels Erinnerungsbuch „Das nasse Dreieck“. Der aus Wedding stammende Arbeitermaler hat darin seine Kneipenbesuche vor 80 Jahren beschrieben. Einer der Stammgäste hat es kürzlich gelesen. „Jar nich schlecht, wat der so schreibt.“ Vielleicht irgendeine genetische Kopplung an den Roten Wedding, in dem außer Blut reichlich goldener Gerstensaft floss, so golden wie heute in der auch tagsüber dunklen „Molle“.

DETLEV LÜCKE