Durchaus eine Wotan-Figur

Er war wirkungsmächtig, wiewohl durch Verträge gebunden; gebieterisch, mit Zügen des herrischen Gottes, aber auch von väterlicher Güte und Nachsicht. Zum Tod des Opernregisseurs Götz Friedrich

Gezeigt wurde von Friedrich da zugleich, wie die vielstündige Musik-Zeit zum Raum, zu einem bezwingenden, wohl auch Zusammenhang erzwingenden Raum werden konnte

von FRIEDER REININGHAUS

Am Freitag hatte „Amahl und die nächtlichen Besucher“ an der Deutschen Oper Premiere – ein Kinder- und Weihnachtsstück von Gian Carlo Menotti aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Ursprünglich fürs Fernsehen gedacht, bediente Menotti die Arme-Leute-Story mit musikalischem Zuckergebäck, wie es 1951 am Broadway eben goutiert wurde: Amahl, der behinderte Junge im Slum, will dem Christkind seine einzige Habe schenken – die selbst gebastelte Krücke. Weil er an das Wunder des Kindes von Bethlehem glaubt, wird ihm geholfen (oder lernt er sich selbst zu helfen) – eine märchenhafte Heilungsgeschichte.

Götz Friedrich, Gottfried Pilz und Isabel Ines Glathar setzten sie so in Bild und Szene, dass die jungen Operngänger teilweise den Atem anhielten, sich durch Theaterzauber bestricken ließen (für die großen Augen war der Zaubertrick mit den drei Kugeln bestimmt, von denen eine unmerklich verschwindet; die Anspielung ist klar). Anders als dem kleinen Helden aus der Wellblechhütte widerfuhr dem seit längerem gesundheitlich schwer angeschlagenen Regisseur Friedrich aber, jenseits des siebzigsten Geburtstags, der Kindheitstraum der Heilung selbst nicht mehr. Drei Tage nach der „Amahl“-Premiere, die die letzte sein sollte an „seinem Haus“, ist er gestorben.

Er war durchaus vielseitig, eben nicht eintönig wie jene Regisseure, die allzu strikt einen Stil ausprägen. „Wandel und Wechsel“, singt Wotan im Ring-Vorspiel „Rheingold“, „liebt, wer lebt; das Spiel drum kann ich nicht sparen.“ Götz Friedrich folgte dieser Maxime. Überhaupt war er eine Wotan-Figur des deutschen Musiktheaters; wirkungsmächtig, wiewohl durch Verträge gebunden; gebieterisch, mit Zügen des „herrischen Gottes“, aber auch von väterlicher Güte und Nachsicht. Wie Wotan war er am Ende weitgehend entmachtet, aber wieder auf der Suche. Der Herr Walhalls trank wohl Met wie der Herr im getäfelten Intendantenzimmer an der Richard-Wagner-Straße sein täglich Schultheiss (dass er neben der Telefon-Dauerleitung zur Übertragung der Probenbilder in sein Eigenheim auch eine Standleitung von der Kindl-Brauerei zum Geheimfach seines Schreibtisches unterhielt, ist üble Nachrede seiner Gegner, an denen es allerdings nicht mangelte). Und was Frau Frigga für den Chef der germanischen Oberwelt, das war wohl die Sopran singende Ehefrau Karan Armstrong für den „Professor“, wie er in seiner Firma genannt wurde.

Der Titel war zutreffend: Die Lehrtätigkeit gehörte für den von der Pike auf „gelernten Dramaturgen“ Friedrich so ziemlich von den Anfängen der beruflichen Laufbahn an zu den Bemühungen ums Theater – und keineswegs nur nebenbei. Bereits von 1954 an nahm Friedrich einen Lehrauftrag für Dramaturgie an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin/Hauptstadt der DDR wahr, lehrte parallel dazu an der HdK in Westberlin, von 1964 an dann als Professor an der Deutschen Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, also wieder im Osten. Er war eben ein Workaholic. So wundert nicht, dass er über der frühen Dozententätigkeit die Profilierung als Regisseur keineswegs vernachlässigte. „Werktreue ohne aktuelle Wirkungsfähigkeit“, so wehrte Friedrich die Anfechtungen puristischer Opernreformwünsche ab, „scheint im Sinne der lebendigen Kunstfunktion von Oper ebenso wertlos zu sein wie modische oder politische Aktualisierung unter Verletzung des Originals“. Dieser Maxime ist er selbst treu geblieben.

Sozialisiert wurde der aus Naumburg stammende Anwaltssohn Götz Friedrich in einer Ära, in der – nach der Nazi-Diktatur – die sozialen Fragen noch einmal brennend wurden, und das unter den Fittichen Walter Felsensteins an der Komischen Oper, an der Friedrich 1953 als Dreiundzwanzigjähriger anfing und Regieassistent und Dramaturg wurde. In Berlin-Mitte sorgte 1959 Friedrichs „Bohème“ in eigener Neuübersetzung für Aufsehen, ein Jahr später „Fra Diavolo“ und eine „Zauberflöte“ in Kassel. Freilich engagierte er sich zugleich für Neues; er brachte beispielsweise, mit der Musik von Siegfried Matthus, die Uraufführung „Der letzte Schuß“ heraus.

Eine Gastinszenierung am Schlosstheater Drottningholm nutzte Friedrich 1972, um der DDR den Rücken zu kehren und sich von jener Theaterlandschaft zu verabschieden, die ihn geprägt hatte mit ihrem Realismus-Gebot, mit ihrer freiwilligen Verpflichtung zu Parteilichkeit und ihrer Orientierung aufs werktätige Volk. Von Schweden aus ging er nach Bayreuth, wo er jenen legendären „Tannhäuser“ inszenierte, der für Randale sorgte: heftigen Unmut löste die Darstellung des Sängerfestes auf der Wartburg als Reichsparteitag oder überhaupt Parteitag aus. Nicht nur Altwagnerianer fühlten sich auf den braunen Schlips getreten, sondern auch die roten Socken auf dieselben: Friedrich wurde wegen „ehrlosen Verhaltens“ aus dem Verband der Theaterschaffenden der DDR ausgeschlossen.

Von Bayreuth und einem Gastspiel beim Holland-Festival führte ihn der Karriereweg nach Hamburg, wo er als Oberspielleiter an der Staatsoper arbeitete, und 1981 nach Berlin, wo er seinen Einstand mit einer denkwürdigen Inszenierung von Leoš Janáčeks „Totenhaus“ gab. Und dann kam der in einen „Zeittunnel“ gepackte „Ring des Nibelungen“, von dem es hieß, er sei durch eine Postkarte aus Washington inspiriert worden; man raunte aber auch, Friedrich sei durch die tief in den Felsen gehauenen Garagen und Tunnels in Salzburg zu dieser Bildidee angeregt worden, mit der das Parsifal-Motto „Der Raum wird hier zur Zeit“ als zentrale Idee ein Sinnbild fand. Gezeigt wurde da zugleich, wie die vielstündige Musik-Zeit zum Raum, zu einem bezwingenden, wohl auch Zusammenhang erzwingenden Raum werden konnte.

Als er dann Mitte der 90er-Jahre in Helsinki noch einmal einen „Ring“ in Angriff nahm, wollte Friedrich – und das deutet die Lernfähigkeit und eine wiedergewonnene Leichtigkeit der Regie-Hand an – Richard Wagners Hauptwerk ohne zentrale, gar durchgängige Regiekonzeption zeigen. Er wollte einfach die so vielfach be- und überfrachtete Geschichte vorführen, die verworrene Geschichte Leuten zeigen, die die Tetralogie noch nie im Theater erleben konnten; schließlich war es das erste Mal, dass am Nordostrand Europas die Nibelungen auf die Bühne kamen. Der finnische „Ring“ wird nun Friedrichs letztes Hauptstück bleiben.