Kulturelle Spaltungen

■ „Tierra“ („Land“) von Julio Médem auf den Spanischen Filmtagen im 3001

Psychische Symptome – Hysterien, Neurosen, Schizophrenien – sind als medizinische Begriffe erst Anfang des 20. Jahrhunderts „erfunden“ worden. Dazu, das lehrt uns Michel Foucault, bedurfte es umfassender gesellschaftlicher Umwälzungen. Erst ein Modell von Selbstverantwortung, das mit dem Beginn der Moderne greift, lässt den Wahnsinn zu einem individuellen Schicksal werden. Diese Entwicklung spiegelte sich auch in den zeitgenössischen Künsten.

Das prominenteste Beispiel ist Stevensons Schauermärchen Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886), in dem eine Persönlichkeitsspaltung zum Ausdruck kommt. Jene Anteile der Persönlichkeit, die dem ehrbaren Dr. Jekyll als unerträglich erscheinen, werden auf die monströse Person des Mr. Hyde übertragen. Da der Doktor jedoch seine abgespaltete Persönlichkeit nicht beherrscht, bleibt ihm nur noch die Entscheidung zum Suizid. Deutlich erkennbar ist an dieser Geschichte, wie die bürgerliche Ordnung darauf setzte, nicht einzugliedernde Gefühle und Performanzen abzuspalten, um sie in der Gestalt des „Anderen“ beherrschbar zu machen.

Erzählungen, die Persönlich-keitsspaltungen nicht entlang einer Gut/Böse-Achse darstellen, sind indessen rar. Und insofern ist ein alternativer Umsetzungsversuch des Themas, wie ihn der Film Tierra vornimmt, nicht hoch genug zu schätzen. Zwar besitzt auch die Hauptfigur Angel ein zweites Ich, aber die Rollenverteilungen und Zuordnungen zwischen dem einen und dem anderen „Ich“ sind vorerst nicht klar. Was fehlt, ist eine Zuweisungsebene an unterschiedliche Verkörperungen. Fast könnte man meinen, Angel sei schlichtweg ein merkwürdiger, Selbstgespräche führender, entscheidungsunfreudiger Mensch.

Leider belässt es der Film aber nicht bei dieser Darstellung, sondern führt die fundamentale Spaltung Angels hinterrücks wieder in den Film ein. Denn die zwei Seelen in Angels Brust lieben zwei Frauen, deren Unterschiede nicht größer sein könnten: Während Angela eine ehrbare und selbstverständlich blonde Frau ist, ist Mari ein ungezügeltes Sexmonster, eine rothaarige Nyphomanin, die ihre sexuelle Energie auch mit Hilfe von Billardqueues verdeutlicht.

Was der Film also anhand dieser beiden Frauenfiguren einführt, ist schlicht eine andere kulturelle Spaltung entlang der weiblichen Abziehbilder Heilige und Hure; die Ehrenrettung der gespaltenen Persönlichkeit geschieht letztlich auf dem Rücken eines anderen Stereotyps. Was durch eine solche Darstellung verwehrt bleibt, ist eine Einführung von komplexen weiblichen Charakteren, deren Kerninhalt sich nicht auf Sexualität beschränkt. Gerade weil es der Film trotz seiner überdimensionierten und elementar-dramatischen Psychogramm-Bilder aber nicht schafft, ohne diesen Rückgriff auf auf männliche Projektionsleistungen sein Thema zu verdeutlichen, läuft seine analytische Leistung ins mehr-als-Bekannte und dadurch ins Leere. Doro Wiese

Do + Sa, 21.30; weitere Filme der Spanischen Filmtage: Just Run, Fr + Mo; Das Meer, So + Di; Kleine Sünden, Mi, alle 21.30 Uhr, 3001