„Das ist das Leid meines Lebens“

Im Prozess gegen den mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher Julius Viel in Ravensburg sagte gestern der Hauptbelastungszeuge aus. Der Verteidiger des 82-Jährigen zweifelt seinen Bericht über die Erschießung von sieben KZ-Häftlingen jedoch an

aus Ravensburg HEIDE PLATEN

Ein „großer, großer Riese“ war er, mit einem dunkelroten Bart. Drei Schüsse „in die Brust, in den Magen, in den Hals“ brauchte es, um ihn niederzustrecken. „Er fällt, hebt sich auf, hebt den Arm, steht auf, steht wieder auf, fällt wieder.“ Vier bis fünf Leute habe es gebraucht, um den schweren Körper auf den Leichenkarren zu zerren. Der Hüne sei der dritte von sieben KZ-Häftlingen gewesen, die der Angeklagte Julius Viel im März 1945 im tschechischen Ort Leitmeritz erschossen habe. Nie werde er dies vergessen, sagte der pensionierte kanadische Wirtschaftsprofessor Adalbert Lallier gestern im überfüllten Saal des Ravensburger Schwurgerichtes als Zeuge aus.

Seit Anfang Dezember steht der ehemalige SS-Offizier Viel in einem der letzten NS-Prozesse der Nachkriegsgeschichte vor Gericht. Der 82-Jährige ist aufgrund der Aussagen des Hauptbelastungszeugen Lallier wegen Mordes angeklagt. Viel, seit einem Jahr in Untersuchungshaft, bestreitet den Vorwurf. 1945 war er Ausbilder in der Nachrichtenschule der Waffen-SS in Leitmeritz nahe des Konzentrationslagers Theresienstadt.

Der Ungarndeutsche Lallier war in der Heimat eingezogen und als 19-Jähriger „gegen meinen Willen“ in die Waffen-SS gepresst worden. Als Funker habe er wegen schlechter Deutschkenntnisse versagt, sei vorübergehend zum Maultierführer degradiert, dann aber wegen seines technischen Könnens zu einem Fortbildungslehrgang nach Leitmeritz abkommandiert worden. Er habe damals „als ein Nichts“ auf einen Einstieg in die Offizierslaufbahn gehofft. Seinen „sehr verehrten Vorgesetzten“ Viel habe er bewundert. Umso erschütterter sei er von dessen Tat gewesen.

Den Hergang schilderte Lallier gestern Vormittag mehrere Stunden lang in bewegenden Worten. Kurz bevor die russische Armee näher rückte, seien KZ-Häftlinge zu Schanzarbeiten eingesetzt worden. Sie hätten einen kilometerlangen Panzergraben ausheben müssen. Er selbst habe vorher nur wenig von den KZs gewusst, habe nur Gerüchte gehört. Dann aber sei ihm und seinen Mitschülern befohlen worden, die Grabungsarbeiten zu überwachen. Schon das habe etlichen von ihnen nicht gefallen. Als künftige Offiziere seien sie der Meinung gewesen, das sei nicht ihre Aufgabe.

Der Anblick der Menschen habe sie erschüttert. „Die armen, hungernden KZ-Insassen mit zerfetzten Sachen. Es war schrecklich.“ Dann habe er, neben dem Graben stehend, gesehen, wie Viel zu einem Waffenständer gegangen sei, einen Karabiner genommen, durchgeladen und aus etwa 20 Meter Entfernung auf die Gruppe schaufelnder Gefangener geschossen habe. Er sei entsetzt gewesen, dass „ein edler deutscher Offizier“ so etwas getan habe: „Wir waren doch nicht die Gestapo.“

Lallier schilderte, wie es ihn jahrzehntelang bedrückt habe, dass „ich damals zu feige gewesen bin, einzuschreiten“. „Das ist das Leid meines Lebens.“ Gleich nach dem Krieg habe er sich einem amerikanischen Offizier und einem österreichischen Abt offenbart. Eigentlich habe er keinen Kameradenverrat begehen wollen, die Last aber sei nicht von ihm gewichen. Immer wieder habe er darunter gelitten. Zuletzt habe ihm ein Freund 1996 Kontakt zu dem US-amerikanischen Detektiv und Nazijäger StevenRambam verschafft, der Julius Viel bei Wangen im Allgäu aufspürte. 1984 war Viel als Journalist in den Ruhestand gegangen. Für seine Arbeit war er 1992 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet worden.

Der Angeklagte, weißhaarig, die markanten, schmalen Gesichtszüge durch das Alter gemildert, hörte sich die Vorwürfe, die er zu Verhandlungsbeginn eine „bodenlose Unverschämtheit“ genannt hatte, ruhig an. Am ersten Verhandlungstag hatte er behauptet, zur angegebenen Tatzeit längst an die Ostfront abkommandiert gewesen zu sein. Eine Anwesenheitsliste der Nachrichtenschule vom 6. April 1945 führt ihn allerdings noch namentlich auf.

Viels Verteidiger, Rechtsanwalt Ingo Pfliegner, eröffnete gestern Mittag mit einem langen Fragenkatalog zu Widersprüchen in Lalliers Aussagen. So seien Entfernungen zwischen dem Schützen und seinen Opfern sowie dem Standort des Zeugen widersprüchlich angegeben. Lallier, der seit 1951 in Kanada lebt, erklärte dies damit, dass er versehentlich englische Fuß mit deutschen Metern verwechselt habe. Lallier reagierte auf die Fragen irritiert: „Ich habe mich nicht immer umgedreht, um zu sehen, wo der Mörder ist.“ Die Befragung des Zeugen durch die Verteidigung wird heute fortgesetzt.