Aufatmen und erste Entzugserscheinungen

Fünf Wochen Wahlchaos sind zu Ende: Al Gore hält seine beste Rede überhaupt und stimmt die Demokraten auf Versöhnung ein

WASHINGTON taz ■ Immerhin 36 Tage hat der Nachwahlkampf gedauert. Jetzt ist er zu Ende. Aufatmen mischt sich mit ersten Entzugserscheinungen – als hätte man einen spannenden Schmöker weggelegt, von dem noch nicht so klar ist, ob das große Literatur oder eher Schund war. Amerikanische Wahlkämpfe enden mit einem eigenartigen Ritual. Der Unterlegene hält eine so genannte Concession Speech und der Sieger seine „Victory Speech“.

Gore hielt die Rede, die er schon vor 36 Tagen hatte halten wollen. Hätte er so doch nur während des Wahlkampfs geredet, uns wäre das alles erspart geblieben. Gore hätte vielleicht noch in seinem Heimatstaat Tennessee gewonnen, und Florida wäre nicht so wichtig gewesen. Aber wer hätte die floridianische Seifenoper missen mögen?

Aber zurück zu Gore: Er war humorvoll, ja warmherzig und – in Amerika sehr wichtig – patriotisch. Er war emotional und fast poetisch, vor allem schien er frei von Bitterkeit. Dass er verloren hat, hat er nicht gesagt, hat er ja auch nicht. Und doch sprach er vom „victor“ und vom „vanquished“ – Sieger und Besiegtem –, die sich jetzt die Hand reichen müssten. Er sprach von seinem langen Weg, der ihn von Vietnam zur Vizepräsidentschaft gebracht hat (man achte auf die Alliterationen!), was ein schöner Kontrast war, denn Bush war nicht in Vietnam und hat politisch so viel noch nicht geleistet – außer dass er jetzt natürlich Präsident wird, was man selbst in Amerika nicht allein für seine schönen blauen Augen wird.

Gores einziges Bedauern? Dass er für die jetzt nicht kämpfen kann, deren Bürde erleichtert und für die Barrieren aus dem Weg geräumt werden müssten. Mit dieser Rede war Gore und nicht sein Gegner Bush der Star des Abends. Er hat sich damit die Tür für ein politisches Comeback offengehalten. Was er weiter machen will? Erst mal nach Hause auf seine Farm in Tennessee gehen und Weihnachten feiern. Und seine Hausmacht wieder aufbauen. Denn das hat dieser Wahlkampf gezeigt: Ohne Wurzeln im Heimatboden, kommt man nicht nach Washington.

George Bush hielt seine Siegesrede vor dem von Demokraten dominierten texanischen Landtag. Das sollte ein Signal für überparteiliches Regieren sein. Bushs Rede war vergleichsweise uninspiriert. Sie war voller Platitüden und Stilblüten: Jedem Kind will er den Schlüssel für seinen Traum in die Hand drücken. Nun ja, man muss selbstverständlich kein großer Redner sein, um Präsident zu werden.

Bei allem Durcheinander, bei der schwindelerregenden Berg-und-Tal-Bahnfahrt, die noch spannender als der Wahlkampf selbst war, ist Amerikas Machtwechsel letztlich friedlich verlaufen. Auf den Stufen des Supreme Courts wurde ein Mann wegen ungebührlichen Betragens festgenommen. Verletzungen wurden nicht gemeldet. Im Eisregen, der gestern über Washington niederging, standen einige Unentwegte vor der Residenz des Vizepräsidenten. Die einen für Bush, die anderen für Gore. Durchgefroren zogen sie sich auf die Connecticut Avenue in Cafés und Kneipen zurück und setzten sich zum Teil gar an einem Tisch.

Geblieben ist die Bitterkeit derer, die die Demokraten mobilisieren konnten – die Schwarzen, die Hispanics, die Gewerkschaftler – und die Enttäuschung derer, deren Stimme nicht gehört und deren Wahl nicht zählte. Bush wird es im geteilten Amerika nicht leicht haben. PETER TAUTEST