Das Ende von Tschernobyl: Erleichterung und Zorn

KLAUS TRAUBE über das heutige Ende des Atomkraftwerks Tschernobyl, die Katastrophen zuvor, den Widerstand und den Zorn wegen der Fortsetzung der Atompolitik mit Hilfe der Europäischen Union

BERLIN taz ■ Die Katastrophe in Tschernobyl war die folgenschwerste in der bisherigen Geschichte des katastrophalen Versagens technischer Systeme. In einem Umkreis von 30 Kilometer Radius wurden die Bewohner evakuiert und auf Dauer umgesiedelt. Tausende Quadratkilometer Land werden unbewohnbar bleiben, noch in über tausend Kilometer Entfernung starben und sterben Menschen an den Spätfolgen der freigesetzten Radioaktivität.

Schon sieben Jahre zuvor, 1979, war im amerikanischen Atomkraftwerk Harrisburg der Reaktorkern geschmolzen. Aber durch Zufall war der Unfall in Harrisburg eingedämmt worden. So hatte Harrisburg zwar Auswirkungen auf die Fachkontroverse um Reaktorsicherheit, aber keine für Laien unmittelbar augenfällige Konsequenzen. Erst Tschernobyl führte das enorme Ausmaß des atomaren Risikos aller Welt vor Augen.

Die Katastrophe ereignete sich 1986, als die Auseinandersetzung um die Atomenergie ohnehin virulenter war als derzeit. Die „friedliche Nutzung“ der Atomenergie war in den 50er-Jahren als die Verheißung des Jahrhunderts lanciert worden. Als in den 60er-Jahren der Bau erster kommerzieller Atomkraftwerke begann, galt die Atomtechnologie allgemein noch als unabdingbare Zukunftstechnologie. Erst in den 70er-Jahren regte sich wirksamer Widerstand, dessen Beginn in Deutschland 1974 die Besetzung des Bauplatzes im badischen Wyhl markierte.

Damals zeigte sich aber auch, dass die Kosten der Errichtung von Atomkraftwerken weit höher waren als erwartet. Damit begann ein schleichender Niedergang der Atomenergie: So wurden in den USA ab Mitte der 70er-Jahre mehr als die Hälfte aller bis dahin bereits fest georderten, teils schon weit im Bau fortgeschrittenen Atomkraftwerksprojekte aufgegeben.

Bis zum Zeitpunkt der Katastrophe von Tschernobyl hatte sich in den meisten westlichen Industrieländern eine Bürgermehrheit gegen Atomenergie gebildet, die auch Einfluss auf die Politik gewann. So hatten Volksentscheide in Österreich die Inbetriebnahme des bereits fertig gestellten Atomkraftwerks Tullnerfeld verhindert, in Schweden ein Ende und in der Schweiz ein Moratorium für den Zubau von Atomkraftwerken erzwungen. In Westeuropa wurden in den 80er-Jahren nur in Frankreich und der Bundesrepublik noch neue Atomkraftwerke geordert. Tschernobyl verfestigte zwar den Widerstand gegen die Atomenergie, führte aber nur in Italien unmittelbar zum Ausstieg. Ein Volksentscheid erzwang dort 1987 die kurzfristige Stilllegung der vier in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke. In Deutschland beschloss noch 1986 ein Parteitag der SPD den Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb von zehn Jahren. Der Beschluss war freilich bis zur Bundestagswahl 1998 nicht umzusetzen. Was als Atomausstieg herauskam, ist eine matte Tschernobyl-Spätfolge.

Wenn nunmehr heute der letzte Reaktorblock in Tschernobyl stillgelegt wird, dann mischt sich in die Erleichterung darüber der Zorn über die im Gegenzug zugesagte Finanzierung der Fertigstellung zweier ukrainischer Atomkraftwerke durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Es ist enttäuschend, dass Deutschland sich bei der Entscheidung der EU über diesen Kredit in Höhe von 770 Millionen Dollar lediglich der Stimme enthalten hat.

Der Bau dieser beiden Atomkraftwerke wurde Ende der 70er-Jahre begonnen und nach der Tschernobyl-Katastrophe eingestellt. Er würde ohne die westliche Finanzierung gewiss nicht wieder aufgenommen. Es ist absehbar, dass diese beiden Atomkraftwerke, wie auch das im tschechischen Temelín, nach Westeuropa und speziell nach Deutschland Strom liefern werden, wenn dagegen nicht politisch eingeschritten wird. Der Import schmutzigen Atomstroms aus solchen Kraftwerken muss verhindert werden. Da das auf der europäischen Ebene nicht geschieht, muss und kann es dringend auf nationaler Ebene durchgesetzt werden.

KLAUS TRAUBE

Traube arbeitete von 1959 bis 1976 als Manager der Atomindustrie. 1974 bis 1975 hörte ihn der Verfassungsschutz wegen angeblicher Verbindungen zur Terrorszene illegal ab. Traube ist seit 1976 vehementer und fachkundiger Kritiker der Atomenergie.

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