„Ficton! Fantasie!“

„Jäcki geht über den Gänsemarkt“: Christian Redl liest Hubert Fichte  ■ Von Christiane Müller-Lobeck

Ob Hubert Fichte wohl geahnt hat, dass er mal als „Vergessener Dichter“ gehandelt werden würde? Seit fünf Jahren veranstaltet Matthias Wegner in den Hamburger Kammerspielen Lesungen, jeweils einem inzwischen toten Hamburger „Dichter“ gewidmet, begleitet von Musik, die als zeitgenössisch zu gelten hat, live oder aus der Konserve. Die Ergebnisse abzüglich des Akustischen fasste er kürzlich in dem Band „Ja, in Hamburg bin ich gewesen. Dichter in Hamburg“ zusammen.

Diesen Sonntag soll nun Hubert Fichte gewürdigt werden, dessen Bücher kaum noch in Buchhandlungen zu bekommen sind. Der Schauspieler Christian Redl (zur Zeit Fritz Haarmann in Der Totmacher an den Kammerspielen) wird Passagen aus Die Palette und Detlevs Imitationen, Grünspan und aus weitgehend unbekannten Briefen lesen. Dazu gibt es Musikstücke und Tonbandeinspielungen aus einer Lesung, die Fichte selbst im Star Club vor 1500 Zuschauern gegeben hat. Sein Verlag hatte ihn Ende der 60er zu einer Lesung gedrängt (“Starclub! hab ich gesagt, damit nichts draus wird.“).

Der „andere“ Ort (“Ich möchte auch mal die fünf Beatles sein“) hat nichts daran ändern können, dass Fichte sich bei einer mündlichen Präsentation der bis dahin unfertigen Palette in viel zu große biografische Nähe zu seinem Text gerückt sah, die Fiction! Fiction! Fantasie! des Textes nicht mehr wahrgenommen wurde, wie in den „Nachwörtern“ des 1968 erschienenen Buches nachzulesen ist. Das Biografische wird wohl auch auf der Sonntagsmatinee in den Kammerspielen lasten.

Dabei ist es das Geringste, dass das Kind Hubert Fichte an den Hamburger Kammerspielen Schauspieler gewesen ist. Denn verhandelt wird der „Hamburger Dichter“, gelesen wird aus Texten mit unübersehbarem Hamburg-Hintergrund. In der Palette, einer Kneipe der „Gammler“, wie alle Nonkonformen damals genannt wurden, in der ABC-Straße am Gänsemarkt hat Fichte Mitte der 60er Jahre abgehangen und Material gesammelt, auch das Grünspan war damals einer der Hot Spots der Künstler-, Schwulen-, Lesben- und subproletarischen Subkultur. Und auch, dass sich die Textauswahl danach richtet, den Homosexuellen, den Juden und Außenseiter Hubert Fichte aufzuspüren, und dass die körperliche Präsenz eines Schauspielers mit seiner wahrscheinlich getragenen Sprechweise ein biografisches Ich betont, wo die Erzähler nicht Hubert, sondern Jäcki und Detlev heißen, das alles wird nicht dazu beitragen, den „Dichter“, wenn man denn solche Leute so nennen will, in den Vordergrund zu stellen.

Fichte war zuerst ein Konstrukteur von Text, von sperrigem Text, von einer Wirklichkeit, die die illusionär flüssige Sprache des Realismus vieler seiner Kollegen immer auch verstellt. Und er hat diese Selbstermächtigung des Autors, „über andere“ und „für andere“ zu schreiben, als eine problematische Position angesehen, nicht erst, als er begann, nach Haiti oder sonstwohin zu reisen und von dort den Stoff für seine Bücher und Radiofeatures zu beziehen, wie in Xango oder Petersilie, von der Literaturwissenschaft gerne seine „ethnologischen Texte“ nennt.

Mitte der 70er Jahre wurde Fichte vom Fischer Verlag aufgefordert, „sein Lesebuch“, eine Auswahl deutschsprachiger Autoren, zusammenzustellen. In „Elf Übertreibungen“, der Anthologie vorangestellt, hadert Fichte mit dem Job der Auswahl und der Tradition, in der er sich befindet, wenn er sie begründen muss: „In keinem Land der Welt wird so unverantwortlich gelobt: Das Bedeutendste der Nachkriegszeit .../ Eines der Wichtigsten ... und oft im Ton des Turnunterrichts, der Endlösung ...“. Und bloß „vergessene“ Autoren zu versammeln, erschien ihm albern. Cut – die Ankündigung der Kammerspiele nochmal: „Inzwischen gehört die Palette längst zu einem modernen Klassiker nicht nur der hanseatischen Literatur des 20. Jahrhunderts.“ Fichte hat dann aus dem Auftrag seines Verlags ein Feature (die zwanghafte Ungebundenheit) gemacht: „Ein Feature aus Gedichten, Theaterstücken, Features, Prosa ein Lesebuch als 'Symposion'.“ Und Symposion heißt, wie, äh, das Fremdwörterbuch der deutschen Sprache mitteilt, nicht nur „Tagung“ und „Sammelband“, sondern auch „mit Trinkgelage und Unterhaltung verbundenes Gastmahl“. In den Kammerspielen wird es gediegener zugehen.

Sonntag, 11 Uhr, Kammerspiele