Berliner Luft in Dosen

Das Leben an der Autobahn-Raste. Die Klofrau im Osten weiß: Männliche Kunden sind netter als Frauen, und im Westen ist die Zeit stehen geblieben

von KIRSTEN KÜPPERS

An Ostzeiten erinnert auf der modernen Brandenburger Autobahnraststätte Linumer Bruch nur ein vor dem Eingang zum Schnellrestaurant aufgestellter Trabbi. Aus dem Autodach wachsen Geranien. Unter neuen Coca-Cola-Schirmen sitzen ältere Manner und Frauen. Viele sind im Partnerlook gekleidet. Davor erstreckt sich die asphaltierte Parkplatzanlage. Auf der A 24 schnellt der Verkehr vorbei.

„Vor der Wende war hier nur Wald“, erzählt die Toilettenfrau Barbara Weiß. Sie kommt aus dem nahe gelegenen Ort Dechtow und arbeitet im flachen Sanitärbau der Raststätte. Früher hat sie in der LPG Kühe gemolken. Wer jetzt im Ort ein Auto hat, fährt nach Berlin zur Arbeit, weiß Barbara Weiß. Die anderen Dechtower seien erwerbslos oder arbeiteten hier an der Autobahn. Gegen die Langeweile an ihrer Arbeitsstätte hat sie neben ihrem Geldtellerchen ein dudelndes Radio aufgestellt. Nebenbei beobachtet sie die Kundschaft. Und kommt zu überraschenden Erkenntnissen: Die männlichen Toilettenbesucher seien netter als die Frauen.

Barbara Weiß hat eine internationale Kundschaft. Vor dem Gebäude steht eine polnische Studentin, die von den saube- ren Rastplätzen in Norwegen schwärmt. Ein griechischer Lkw-Fahrer raucht ausländische Zigaretten. Ein Reiseleiter sammelt hektisch die Ladung des Doppeldeckerbusses aus Dänemark ein. Die Reisegruppe fährt heute zu einem Opernbesuch nach Prag.

Die Begegnungen der Toilettenfrau an ihrem Arbeitsplatz sind flüchtig. Die Pause an der Raststätte ist den Reisenden nur Zwischenzeit zur praktischen Bedürfnisbefriedigung: Auf dem Parkplatz essen sie, im Auto sitzend, eingeschweißte Salamibrötchen. Dazu gibt es Automatenkaffee. Davor benutzt man eben für 50 Pfennig die Toiletten der Autobahnanlage.

Wenige Fluchtunfähige bleiben länger an der Raststätte: Ein ungarischer Fernfahrer putzt wegen Sonntagsfahrverbot in der Parkbucht seinen 15-Tonner. Zwei glücklose Tramperinnen auf dem Weg nach Rostock warten an dem Schild an der Ausfahrt. Einer ihrer Vorgänger hat dort den Spruch hinterlassen: „McDonald’s is shit. Hash is better.“ Darunter steht eine E-Mail-Adresse in Italien. An der Ausfahrt ist es laut und zugig.

Der Platz der Toilettenfrau scheint vergleichsweise gemütlich. Konstant rauschen die Klospülungen. Neben ihrem Radio sitzend, strahlt Barbara Weiß Ruhe aus. Im Vergleich zu ihr wirken die anderen Angestellten von Linumer Bruch angespannt – eine vom Verkehrsfluss gehetzte Berufsgruppe. In der Großküche des Restaurants haben die Angestellten keine Geduld, das Piepssignal der Mikrowelle abzuwarten, Zeit zum Reden schon gar nicht. Die Putzfrau blafft: „Ich bin hier nur die kleinste von den kleinen Angestellten.“ Der Chef ist in einer Besprechung.

Als selbstständiger Betreiber hat er die Raststätte Linumer Bruch in einem Franchisingsystem von der Tank & Rast GmbH gepachtet. Nur eine knappe Hand voll deutscher Raststätten gehört nicht zu diesem Unternehmen. Laut Selbstdarstellung ist das Ziel der Tank & Rast, „die Qualität der Dienstleistungen an der Autobahn flächendeckend auf ein einheitlich hohes Niveau zu bringen“. Das bedeutet, dass sie den Pächtern gleiches Inventar, uniforme Berufskleidung und gemeinsame Schulungen anbietet. Wenn das Unternehmen sich im Sommer für „mediterrane Wochen“ entscheidet, steht überall Mozzarella mit Tomaten auf der Speisekarte. Auch in Linumer Bruch. Von diesem Angebot macht die Toilettenfrau Barbara Weiß jedoch keinen Gebrauch. Sie nimmt sich als Verpflegung Wurstbrote von zu Hause mit. Das Essen in der Raststätte ist ihr zu teuer.

In dem an der A 115 gelegenen Westberliner Rasthaus Grunewald beaufsichtigt keine Toilettenfrau die Sanitäranlagen. Nicht mal die früher in allen westdeutschen Raststätten üblichen Aufkleber hängen hier noch: Der Autobahnfink, der freundlich zur Sauberkeit mahnte, ist verschwunden. An den Toilettentüren steht lediglich der Hinweis „Bitte länger spülen“. Die Räume sind braun gefliest, die Kloschüsseln aus dunkelgrünem Porzellan.

Vor dem Gebäude stehen zwei Rentner in Jogginghosen auf dem Parkplatz. Sie kommen viermal die Woche hierher. „Zum Gucken und Dämlichquatschen.“ Skeptisch taxieren sie tankende Cabriolets und den aktuellen Einsatz des ADAC-Helfers. Das ist spannender als zu Hause sitzen, sagen sie. Das Raststättenpublikum zeigt den beiden, was gerade los ist in Deutschland: Schweigsame Teenager in schwarzen Umhängen künden vom Dark Wave Festival in Leipzig. Reisegruppen werben mit hellen Singstimmen fur den Kirchentag. Einfahrende Autokonvois erzählen mit protzig vorgeführten Fanartikeln von aktuellen Fußballbegegnungen. Zu Zeiten großer Rockkonzerte klumpen sich die Motorradcliquen.

Seit dem Mauerfall habe sich das Leben an der Raststätte verändert, erzählen die zwei Senioren. Früher sei man als Westberliner hier auf dem Gelände von Männern aus parkenden Autos heraus observiert worden, behauptet der eine. Die Stasi war eben überall. Die sei jetzt verschwunden, wie die „Schikanekontrollen“ auf der Transitstrecke durch die DDR. Wenn es ihm nun auf dem Parkplatz zu langweilig wird, holt er die abgegriffenen Schwarzweißfotos von der Freundin auf dem Motorrad aus dem Handschuhfach seines VW Polo. Sein Bekannter kennt sie schon. Die meisten anderen Besucher wirken auf dem Raststättengelände weniger heimisch. Wie ausgeworfen auf einen unwirtlichen Planeten laufen sie mit steifem Gang zum Tankstellenshop. Der bietet ein ewig zeitgemäßes Sortiment: Haarspray, Pornokalender und Feuerzeuge in Form eines Frauenkörpers. Eine CD der Musikgruppe Truck Stop verspricht Lieder, die von der Romantik der Straße singen. „Berliner Luft“ in Dosen ist ebenfalls im Angebot.