„Angst ist ein Regulativ“

800 Meter hoch und nahezu senkrecht ist die Steilwand in der Antarktis: Ralf Dujmovits will als Teilnehmer der Expedition „The Wall“ zu den Erstbezwingern des Granitfelsens „Holtanna“ gehören

Interview JOACHIM EIERMANN

taz: Verspüren Sie Angst vor solch einer Tour?

Ralf Dujmovits: Ja, und das ist gut. Es ist ein Regulativ, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen, wenn es zu gefährlich oder zu anspruchsvoll wird. Es wäre gefährlich, wenn die Angst nicht mit unterwegs wäre.

Sie sind der einzige deutsche Bergsteiger, der die zwei höchsten Berge der Welt bestiegen hat. Nun versuchen Sie sich als Felskletterer!

Man muss den Unterschied zum Höhenbergsteigen sehen, worauf ich mich eigentlich spezialisiert habe. Das ist ein Unterschied wie bei einem Marathonlauf und einem 400-Meter-Sprint. Ich habe mich zwar ganz gut auf das Felsklettern vorbereiten können, trotz allem gehöre ich nicht zu den Spitzenleuten in dieser Disziplin in Deutschland oder Europa.

Wenn alles gut geht, werden Sie zur Zeit des Jahreswechsels auf dem Holtanna stehen. Schöne Aussicht?

Es ist eine enorme logistische Vorbereitung notwendig gewesen. Der Weg ist ja das Ziel, nicht unbedingt der Gipfel, dieser ist auch über eine leichtere Route zu erreichen. Mich reizt die enorme Herausforderung der Riesenwand. Wenn alles klappt, werde ich happy sein. Und: Ich hoffe, es gelingt uns, die Faszination und auch die Zerbrechlichkeit der Antarktis zu vermitteln.

Naturschützer weisen auf die hochsensible Ökologie der Antarktis hin. Lässt sich eine Expedition wie „The Wall“ rechtfertigen?

Wir werden drauf achten, dass wirklich alles, was wir ins Eis mitnehmen – auch nachdem es gegessen wurde –, wieder aus der Antarktis rausgeht. Andererseits wird der Output der Expedition, nämlich die tägliche Berichterstattung über das Internet, die ökologischen Zusammenhänge über die Antarktis nach außen tragen.

Wie wollen Sie auf die Steilwand Holtanna hinaufkommen?

Es gibt einige Stellen mit überhängenden Wandpartien, an denen freies Klettern unmöglich ist. Hier werden wir auf technische Hilfsmittel zurückgreifen müssen, um uns nach oben arbeiten zu können, zum Beispiel auf Klemmen, die in kleinste Risse geschoben werden, oder auf Haken. Wir werden keine reine Freikletterei betreiben können, sondern eine Mischung aus künstlicher Kletterei und sportlicher.

Stecken Sie die gesamte Zeit in der Wand?

Nein, am Anfang werden wir uns jeden Abend zur Basis abseilen und im Zelt übernachten. Am nächsten Morgen steigen wir entlang den Fixseilen mit Steigklemmen wieder zu dem Punkt hinauf, an dem wir am Abend zuvor aufgehört haben. Etwa ab einem Drittel der Wandhöhe wird dieser Aufwand zu groß. Dann werden wir bis zum Gipfel durchziehen und in Hängebiwaks übernachten.

Haben Sie sich speziell ernährt?

Während meiner Vorbereitung zu einer Everestexpediton 1996 sagten mir die Spezialisten, wenn ich gezwungen wäre, im Freien ohne Schlafsack zu biwakieren, würde ich dies nicht überleben. Mein Körperfett machte einen äußerst geringen Anteil am Gesamtgewicht aus. Man legte mir nahe, weniger spartanisch zu leben und mehr Fett zu mir zu nehmen. Seither esse ich kalorienreicher. Gerade jetzt bei der Antarktisexpedition, bei der wir viel in großer Kälte unterwegs sind, ist es wichtig, dass gewisse Fettreserven im Körper vorhanden sind. Ich habe ordentlich an Kraft zugelegt: im Unterarmbereich, im Brustmuskelbereich, im gesamten Schultergürtelbereich.

Welche Ausrüstung ist am Antarktisfels wichtig?

Wir tragen einen für diese Unternehmung entwickelten Schuh, einen gefütterten Reibungskletterschuh mit einer langen Gamasche, in dem man einen warmen Fuß behält. In der Sonne, die 24 Stunden am Tag scheint, lässt es sich auch in einer leichten Jacke klettern. Bei Windstille kann es schon 10 bis 15 Grad plus warm werden. Sobald die Sonne jedoch ums Eck verschwindet, werden es schlagartig minus 25 bis 30 Grad. Dann stellen wir das Klettern ein.

Wie schützen Sie die Hände?

Für Handschuhe ist die Kletterei zu anspruchsvoll. An kalte Hände kann man sich gewöhnen. Jeder kennt es als Kind vom Schlittenfahren. Wenn die Finger erst mal richtig kalt sind, kommt der Moment, in dem sie auftauen und es richtig funkelt.

Eine Felswand wie den 800 Meter hohen „Hohlen Zahn“ gibt es hier zu Lande nicht. Bedeutet das nicht ein erhebliches Handicap fürs Training?

Ähnlich hohe Wände gibt es in den Alpen, aber so ausgesetzt und steil findet man hier nichts Vergleichbares. Ich bin so große Wände aber bereits in den USA geklettert, da habe ich diese ganz spezielle Technik des Big-Wall-Kletterstils gelernt. Außerdem war Konditionstraining fast täglich angesagt.

Welchen Belastungen ist ein Körper ausgesetzt, der zehn bis zwölf Tage an einem Berg wie dem Holtanna hängt?

Die lange Zeit in der Vertikalen beansprucht den Kopf sehr stark. Es gibt keinen Platz, an dem man richtig stehen könnte. Das heißt, ich bin meistens im Hüftsitzgurt angebunden. Er drückt auf die Hüften und schmerzt. Das eigentliche Klettern ist trotzdem oft weniger anstrengend als das Nachziehen der riesigen Materialsäcke.

Beschreiben Sie doch mal einen Arbeitstag von „The Wall“?

Bevor die Sonne kommt, fängt man damit an, sich in den Hängebiwaks vorzubereiten. Sobald die Sonne scheint, geht es los. Zwölf Stunden Klettern stehen dann an. Danach kehrt man zum letzten Biwak zurück, kocht noch etwas, isst und trinkt. Schläft acht Stunden.

Allzu kommod werden Sie sich kaum betten können?

Geschlafen wird in Hängematten. Das ist recht komfortabel. Wir hängen die Rahmen übereinander, das ist dann wie ein Etagenbett. Schlecht ist dabei nur, wenn einer der oberen seine Suppe oder seinen Tee verkleckert.

Wie gut sind Sie vor Abstürzen gesichert?

Wir sind die ganze Zeit durch Seile miteinander und dem letzten Standplatz verbunden. Wenn einer im Vorstieg fällt, fällt er maximal die Höhe, die er vorausgeklettert ist und noch einmal die selbe Länge am letzten Haken vorbei. Das sind zehn bis 20 Meter. Die Seile halten das aus. Beim Sportklettern sind Stürze relativ häufig, das richtige Verhalten lässt sich trainieren.

20 Meter sind eine große Fallhöhe.

Ja, das ist ein ordentliches Stück, aber so ein Fall passiert nicht alle Tage. Die Bauchmuskulatur – dort sitzt der zentrale Anseilpunkt – ist durch das Training so gut beieinander, dass man das abfangen kann. Man fällt normalerweise mit den Füßen voraus. Die Helme sind zudem so konzipiert, dass sie auch einen harten Aufprall auf dem Fels abfangen können.