Minister Riester wird reformiert

Zwei Jahre hat der Arbeitsminister die Rente reformiert. Jetzt war er kurz mal weg – und die Lösung war ohne ihn gefunden. Das macht ihm gar nichts

von BARBARA DRIBBUSCH
und JENS KÖNIG

Wenn Gerhard Schröder in vielleicht zehn Jahren mit seinen ehemaligen Ministern unterm Weihnachtsbaum sitzt und Geschichten aus der guten alten Zeit erzählt, dann lässt garantiert irgendeiner das Stichwort „Australien“ fallen, woraufhin die fröhliche Runde in Gelächter ausbrechen wird. „Australien“, daran erinnern sich alle sehr genau, das waren die sechs kuriosen Tage im Dezember 2000, als der Arbeitsminister Walter Riester ans andere Ende der Welt reiste, während zur gleichen Zeit im grauen Berlin seine Rentenreform auseinandergenommen wurde. „Australien“, das war einer der seltenen Momente, in denen ein Minister der rot-grünen Regierung alles falsch machte, was falsch zu machen war: Walter Riester war zur falschen Zeit am falschen Ort und präsentierte hinterher, die falscheste Ausrede, die man in solch einer Situation nur haben kann. Der Termin der Reise, sagte Riester, stand schon lange fest, und es klang, als hätte der Minister nicht mal Zeit, zu seiner eigenen Beerdigung zu kommen. Zehn Jahre später kann man über solche Pannen natürlich herzhaft lachen.

Walter Riester lachte gestern auch, aber etwas gequält. Das lag vielleicht auch daran, dass er müde war. Gut 24 Stunden hat sein Flug von Canberra nach Frankfurt am Main gedauert. Um sechs Uhr am Freitagmorgen war er gelandet, hatte von einem Mitarbeiter einen Stapel Akten in die Hand gedrückt bekommen und ihn auf dem Flug nach Berlin hektisch studiert. Um 11.00 Uhr war schließlich eine Koalitionsrunde angesetzt, bei der die Fraktionsspitzen von SPD und Grünen ein Herzstück der von Riester geplanten Rentenreform kippen wollten: den so genannten Ausgleichsfaktor.

Drei Tage lang, bei einer Experten-anhörung des Bundestages, war Riesters künftige Rentenformel auseinandergenommen worden. Der Kanzler war gar nicht amüsiert darüber, dass sein Arbeitsminister im sonnigen Australien irgendein drittklassiges Abkommen unterzeichnete. Er zitierte ihn nach Berlin. Die SPD-Fraktion arbeitete in Absprache mit den Grünen währenddessen schon an einer neuen Rentenformel. Die Kritik der Gewerkschaften und der Verbände war so massiv, dass Riesters Rentenreform und wahrscheinlich auch der Ministers selbst die Weihnachtsferien nicht überstanden hätten. Also musste sofort gehandelt werden.

SPD und Grüne störten sich nicht daran, dass sie mit dem Ausgleichsfaktor ausgerechnet jene Rentenformel kippten, die sie vor ein paar Monaten selbst beschlossen hatten.

„Deutschland ist ein Irrenhaus. Und hier ist die Zentrale“, lautet ein beliebter Spruch in deutschen Amtsstuben. Die Zentrale befindet sich ab jetzt immer dort, wo gerade über die Rentenreform diskutiert und entschieden wird. Nicht nur, dass die Regierungsparteien ihre eigenen Beschlüsse mir nichts, dir nichts über Bord werfen – sie sind augenscheinlich sogar noch froh darüber. Die Grünen waren ohnehin nie ein Freund von Riesters Ausgleichsfaktor. Die Sozialdemokraten können ebenfalls kaum verheimlichen, dass sie dem Ausgleichsfaktor keine Tränen nachweinen.

Und der Basta-Kanzler, der noch vor fünf Wochen den Gewerkschaften offen gedroht hatte, die Rentenreform werde so und nur so durchgezogen? Der erklärt froh gelaunt, die Regierung wolle die bestmögliche Rentenreform verabschieden, und jeder versteht sofort, dass er damit plötzlich nicht mehr die seines Arbeitsministers meint.

Den Irrsinn perfekt machte gestern Walter Riester. Er saß vergnügt dabei, als verkündet wurde, dass heute nicht mehr gilt, was bis gestern noch galt. Vielleicht muss man jahrzehntelang bei der Gewerkschaft gearbeitet haben, um ausgerechnet bei seiner eigenen Beerdigung lachen zu können. „Ich habe nie behauptet, dass der Ausgleichsfaktor ein Kernpunkt meiner Reform ist“, behauptete Riester fröhlich und verlor sich ansonsten, wie so häufig, im Vorrechnen komplizierter Zahlenmodelle. „Wir schöpfen die 22 voll aus, um von 64 auf 67 zu kommen“, sagte ein Arbeitsminister, dessen Ziel es ganz offensichtlich ist, irgendwann bei einer Mathematik-Olympiade eine Medaille zu gewinnen.

Nur einmal guckte Walter Riester etwas irritiert. Ob er bei der ganzen Kritik und Belastung nicht schon einmal an den Rücktritt gedacht habe, wollte jemand wissen. „Sie sehen, ich stehe die Belastung sehr gut durch“, antworte Riester, „selbst nach so einer lange Reise.“ Die Antwort klang eine Spur zu selbstsicher. Am Vormittag hatte der Arbeitsminister noch Angst vor den zahlreichen Fernsehkameras, die vor dem Gebäude der SPD-Fraktion auf ihn warteten. Riester war durch den Hintereingang geschlichen.