„Wir brauchen keine Träume“

Die Vielvölkerregion Wojwodina möchte Motor für die Integration Serbiens in Europa sein. Die Politiker der Region wollen das von Milošević abgeschaffte Autonomiestatut wieder einführen. Aber die Weichen für die Zukunft werden in Belgrad gestellt

aus Novi Sad ERICH RATHFELDER

Die Stümpfe der Pfeiler der Donaubrücke liegen gut sichtbar im Strom, an den Ufern sackt ein Gewirr aus Beton und Eisenstreben in das Flussbett ab. Als Raketen diese über 700 Meter lange Brücke trafen und noch zwei weitere Brücken in Novi Sad, der Hauptstadt der Wojwodina, zerstörten, war im Mai 1999 einer der Höhepunkte im Kriege der Nato gegen das Jugoslawien des Slobodan Milošević erreicht.

Mila S., eine damals 22-jährige Studentin, möchte eigentlich nicht mehr an diese Zeit erinnert werden. „Dass ausgerechnet unsere Brücken und nicht jene in Belgrad zerstört wurden, hat uns tief getroffen. Wir verstanden die Welt nicht mehr.“ Denn die Bewohner der Hauptstadt der Wojwodina, dieser Region im Norden Serbiens, gehörten in ihrer Mehrheit schon lange zur Oppositionsbewegung. Viele wehrfähige Männer hatten sich während der Kriege in Kroatien, Bosnien und dem Kosovo dem Wehrdienst entzogen und waren über Ungarn in den Westen geflohen. „Wir waren hier doch immer westlich orientiert. Wir waren nie begeistert über die Kriege, die Milošević angezettelt hat“, sagt Mila S.

Die rund zwei Millionen Menschen zählende Bevölkerung der Wojwodina hat es Milošević nie verziehen, dass er das 1974 in Jugoslawien durchgesetzte Autonomiestatut der Region ähnlich wie das Autonomiestatut im Kosovo 1989 beseitigen ließ. Für den 60-jährigen Nicifor Todorović gehörten die Siebziger- und Achtzigerjahre zur schönsten Zeit seines Lebens. Als Direktor des staatlichen Radios der Region hielt er Kontakte zum Ausland und zu Freunden in anderen Republiken des ehemaligen Jugoslawien. Er wurde 1989 ein Opfer der Säuberungen, weil er sich gegen die Abschaffung des Autonomiestatuts aussprach.

Opfer der Zentralisierung

„Vorher war die Wojwodina reich, wir hatten die profitabelste Landwirtschaft, wir hatten ein Kulturleben, das sich sehen lassen konnte“, erinnert sich Todorović. Milošević habe die Provinz ausgeplündert. Selbst die Pensionskassen seien der „Zentralisierung“ zum Opfer gefallen. Alle Steuereinnahmen seien nach Belgrad geflossen, nur ein geringer Teil zurückgekommen. „Das Land wurde systematisch heruntergewirtschaftet. Und Milošević wollte unsere Identität brechen.“

Von dem Burgberg Novi Sads bietet sich ein prächtiger Blick auf das flache Land, das von den Strömen der Donau, der Save und der Theiß durchzogen ist. Bevor die Siedler hierher kamen, war dies alles eine Sumpflandschaft“, sagt Andreas Bürgermayer, einer der noch wenigen hier lebenden Deutschen, dessen Vorfahren das Land einst urbar gemacht hatten. Nach den Türkenkriegen Ende des 17. Jahrhunderts folgten viele Bürger des Habsburgerreiches, Deutsche, Ungarn, Kroaten, Rumänen, Slowaken, Tschechen, Ruthenen, Juden und andere einem entsprechenden Aufruf der Kaiserin. Auch serbische Flüchtlinge aus dem Kosovo siedelten sich an. „Nach nur zwei Generationen war das Land reich. Die schwarze Erde wurde zur Kornkammer des Habsburgerreiches.“

In der 21.000 Quadratkilometer großen Wojwodina bildete sich ein Vielvölkergemisch mit einer eigenen Tradition und Identität. 1991 setzte sich die Bevölkerung aus mehr als einer Million Serben, 350.000 Ungarn, 70.000 Kroaten, 60.000 Slowaken, 40.000 Montenegriner, 40.000 Rumänen, Ruthenen, Ukrainer und anderen Bevölkerungsgruppen zusammen. Für den Serben Nenad Canak, den 39-jährigen Präsidenten des Parlamentes der Region, ist trotz der Verbrechen während und nach dem Zweiten Weltkrieg und der Kriege der letzten Jahre der Geist der Toleranz, der Respekt vor der anderen Kultur, noch lebendig „und gehört zu unserer Identität“. Canak betont: „Die Wojwodina kann jetzt wieder nach innen und außen Zeichen setzen.“

Zwar ist auch bei ihm noch etwas von der Verbitterung über die Nato-Angriffe zu spüren. Doch Canak schweigt auch über die serbischen Verbrechen nicht. Dass er jetzt an Krücken geht und einige Operationen hinter sich hat, ist jedoch nicht dem Krieg, sondern seinem Leichtsinn zuzuschreiben. Als er im Mai dieses Jahres mit einem Motorrad mit über 260 Sachen über die Straßen jagte, verlor er die Kontrolle über das Fahrzeug.

Der in Novi Sad aufgewachsene Draufgänger wurde mit über 100 der 120 Stimmen zum Parlamentspräsidenten der ehemals „autonomen Region Wojwodina“ gewählt. Er sieht darin einen Beweis für den Zuspruch, den er in seiner Heimat genießt. „Bei den Wahlen im September wurde bei uns ein neues Parlament gewählt, 118 der 120 Mitglieder dieses Parlamentes gehören dem Oppositionsbündnis DOS an, die von Milošević geführte Sozialistische Partei hat bei uns nur noch zwei Parlamentsabgeordnete.“

Canak ist es gewohnt, politisch mitzumischen. Gerade jetzt werden in Belgrad die Weichen für die Zukunft Serbiens neu gestellt. Am 23. Dezember wird in Jugoslawien gewählt. Wird die Wojwodina dann wieder zur autonomen Region werden? Werden die demokratischen Reformen konsequent fortgeführt?

Deutlicher Kontrast zwischen Stadt und Land

Der Vorsitzende der „Liga der Sozialdemokraten“ ist einer der unerschrockensten Gegner Miloševićs und fordert vehement die Aburteilung der Kriegsverbrecher. Als sich in den letzten Jahren kaum mehr jemand traute, seine Stimme zu erheben, warb Canak wortgewaltig für eine demokratische und tolerante Gesellschaft. Und aus diesem Selbstbewusstsein heraus wagt Canak manchen Seitenhieb auf die neuen Leitfiguren in Belgrad, auf Präsident Vojislav Koštunica und den Chef der Demokratischen Partei, Zoran Djindjić, die nicht immer so klare und scharfe Worte gegen Milošević gefunden hatten. Ihm ist bewusst, dass er die Interessen der Region in Belgrad erneut durchkämpfen muss. Die Belgrader haben nämlich etwas anderes vor: Sie wollen den gesamten Staat dezentralisieren. In einem solchen Modell hätte eine staatenähnliche Autonomie der Wojwodina keinen Platz.

„Dann würde der Zentralismus siegen“, sagt auch Sandor Egeresi, der dynamische Chef der größten Partei der Ungarn und Stellvertreter Canaks. „Was wir brauchen, ist ein eigenes Budget, damit wir endlich etwas für die Wirtschaft tun können.“ Vehement tritt der Politiker für die Anbindung der Region an Europa ein. Erste Erfolge könne man schon vorweisen. Die Wojwodina bilde zusammen mit einigen Regionen Südungarns, Rumäniens und dem Gebiet um Tuzla in Bosnien eine „Europaregion“. Die Wojwodina wolle sich nicht von Serbien abspalten, sondern der Motor für die Integration Serbiens nach Europa sein. „Wir müssen der Bevölkerung beweisen, dass die Demokratie und die Integration in Europa auch wirtschaftlich was bringt.

Milanka K. ist skeptisch. „Dieses ganze Gerede über Europa, Autonomie und über Demokratie, das ist doch nur etwas für die Stadt“, sagt die ehemalige Fachkraft einer Kooperative. Nun verkauft sie Lebensmittel in einem dieser Dörfer, deren Häuser sich endlos entlang der Straße reihen. Sie blickt von ihrem Laden auf die Dorfstraße, wo Kinder spielen und einige Männer sich gelangweilt unterhalten. „Sehen Sie die Häuser, die halb verfallen sind, wie der Putz bröckelt? Auch die Dächer müssen repariert werden. Doch hier tut niemand was.“ Die meisten der Männer da draußen seien serbische Flüchtlinge aus Kroatien und dem Kosovo und hätten kein Interesse daran, für die Häuser des Dorfes was zu tun. Viele der noch vor wenigen Jahren hier lebenden Ungarn seien abgewandert.

Sie lädt zu einer Rundfahrt ein. In den Dörfern Lok und Knicanin bietet sich ein ähliches Bild. „Der Boden ist fruchtbar, aber das Bewässerungssystem ist seit fünfzig Jahren nicht mehr in Stand gesetzt.“ Schilf steht in den Gräben, die die endlosen Felder begrenzen. Ein paar Kilometer weiter führt eine Seitenstraße zu einer Kooperative. Die Scheunen sind voller Stroh, doch Tiere gibt es hier nicht mehr. Die Stallungen und Wirtschaftsgebäude verfallen. „Was wir brauchen sind Leute, die arbeiten, die die Dinge wieder in die Hand nehmen, keine Träume.“