Ein deutsches Begräbnis

Das Dilemma: Die Trauerfeier abbrechen, den Rechten das Grab überlassen? Oder weitermachen und ein Forum bieten?

aus Bernsdorf THOMAS GERLACH

Nun haben sie Matthias mit deutschem Gruß und auf Lateinisch unter die Erde gebracht. Nein, nicht mit gerecktem Arm am offenen Grab – doch wer die Zeichen sehen wollte, sah sie. Das goldfarbene „ R.I.P. 88“ war nicht übermäßig groß auf der solide genähten schwarzweißroten Schärpe: R.I.P. sorgte für Verwirrung, die 88 nicht. Das „Requiescat in pace!“ für die Lateiner, die 88 für die Kameraden. Zweimal die Acht als Zeichen für den Buchstaben H, den achten im Alphabet, HH gleich Heil Hitler. Die Kameraden lassen sich nicht verbieten, wie sie einen der Ihren bestatten. Nicht von der Pastorin, nicht von der Polizei.

Hier der Enkel, da der Kamerad

Waren es zwei Beerdigungen? Hier der „anständige Sohn und Enkel“ der Familie F. der „plötzlich und unerwartet“, klagt die Traueranzeige, „unfreiwillig aus dem Leben gerissen“ wurde, ein Bernsdorfer Bursche, den ein Unglück ereilt hat, eine Art Verkehrsunfall auf dem Bürgersteig? Dort der Kamerad, der gefallen ist, am letzten Samstag, ermordet, ein Messer im Bauch, gezückt von einem 15-jährigen Vietnamesen? Hier die Bernsdorfer, von denen viele so gern schweigen seit letztem Samstag. Dort die Glatzen: hochgezogene Schultern, hängende Köpfe, Faust in der Tasche. Sie drehen sich um, checken die Lage und flüstern einander ins Ohr. Wollen dastehen wie Eichen, schweigend im Dezemberwald, Wasser tropft herab, und frieren doch auch bloß.

Zwei Beerdigungen, zwei Kreise, eine Schnittmenge, Aufschrift „Anständig“. So richtig wissen sie mit ihren Lonsdale-Jacken und Springerstiefeln nicht, wie sie trauern sollen, die Opferrolle ist neu. „White Power“, „White Pride“ und „Skinhead“ – Garderobe und weiße Schnürsenkel waren bisher auf anderen Treffen dabei. Wie man Siege feiert, wissen sie, aber: Wie trauert man? Erhobenen Hauptes oder Blick nach unten? Schweigend oder laut? Pathetisch oder cool? Manche haben sich zur Feier den Schädel frisch geschoren. Andere haben Wehrmachtsmäntel übergestreift, Schöße flattern, Knöpfe leuchten, und sehen aus wie Kommandanten. Zwischen den Lebensbaumhecken der Grabreihen eilen sie und sind wichtig, weiße Armbinden leuchten von Jacken: „Ordner“ – es wird „anständig“ begraben.

Einer hat keine Eile, andächtig steht er am Portal. Hat der Führer je geweint? Wohl nicht, jedenfalls nicht öffentlich. Und so weint auch die Kopie nicht. Scharf gezogener Scheitel, strenger Blick, Hände vorm Geschlecht und Blick nach unten – Bedeutsamkeit bis in die Hosenfalte, nur der schmale Schnauzer fehlt. So ein schönes Double ist auch bei den Kameraden rar, so einer ist für jeden Abend gut: Ein Führerlein, eine lebende Puppe, geschnitzt aus deutschem Holz, belebt mit deutschem Blut und eine Sendung in der Brust, die noch längst nicht vorüber ist. Ein kleiner Star im rechten Panoptikum, Wiedergänger erwachen, Geisterstunde am Vormittag um elf auf dem Friedhof zu Bernsdorf.

Pastorin Angelika Scholte-Reh will das alles richten: Dem Spuk das Gotteswort entgegensetzen, die Trauer kanalisieren, mit Trost nicht sparen, dennoch ein paar deutliche Worte finden, zur Versöhnung aufrufen, zum Brückenbau, Matthias in Gottes Hände legen, das endgültige Urteil dem Richterstuhl Christi überlassen und die Lage entschärfen. Die Frau im Talar, mit der schmucken Brille auf der Nase ist Herrin des Friedhofs und des heutigen Vormittags. Sie hofft es zumindest. Bittet Fotografen und Kamerateams auf der Straße zu bleiben, hat mit den Skins vereinbart: Keine rechten Symbole, andernfalls werde sie den Talar ausziehen und gehen. Manche sind gekommen, nur um zu sehen, ob sie das wohl macht. Und irgendwo weit hinter den Bäumen steht die Polizei mit Wasserwerfer und Panzerwagen, Hundertschaften aus Berlin, Brandenburg und Sachsen.

Der Bürgermeister ein Statist

Drinnen in der Kapelle sitzt Bürgermeister Menzel, seit dem blutigen zweiten Advent ist er nur noch Statist in seiner Stadt. Die Lust am Regieren hat er wohl verloren, der Ausnahmezustand ist seine Sache nicht. Pastorin und Polizei haben sein Geschäft übernommen. Und der Bischof in Görlitz hat auch seinen Segen gegeben, obwohl Matthias und dessen Eltern nicht zur Kirche gehören. Der Wind peitscht Schnee und Regen über die Gräber. Fünfzig sitzen in der Kapelle, 250 stehen davor, draußen kommt der Lautsprecher kaum gegen den Sturm an, drinnen balanciert die Pastorin. Wortfetzen fegen über den Platz: Latente Gewalt, verletzte Gefühle, Verantwortung und: „Daran, dass die Gewalt am letzten Sonnabend eskaliert ist, haben mehr Menschen Anteil gehabt.“ Kopfschütteln draußen, der Hitler-Homunkulus erwacht, Murmeln. Sie hätten wohl gern eine andere Rede gehört, halten aber an sich.

Die Pastorin hat zuvor Liedzettel verteilt: „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand, die er zum Heil uns allen barmherzig ausgespannt.“ Einsam und mit dünnem Sopran hebt sie an, draußen biegt der Sturm die Tannen. Einer mit „88“-Basecap schwenkt das Papier, reicht es unwirsch seiner Freundin. Mit dieser Seelenreise hat er nichts am Hut. Murmeln, Kopfschütteln, ungläubiges Grinsen, sie hätten wohl gern ein anderes Lied gesungen, halten aber an sich. Halten Rose, Nelke gesenkt. Keine Symbole, jedenfalls keine justiziablen, dafür Blumen, so wie abgesprochen – ein Skin, eine Blume, viele Taschentücher. Sie werden verteilt, Tropfen hängen an der Nase, Augen werden feucht, bei Trauernden und bei Neugierigen auch. Bei wem es die Gefühle nicht schaffen, besorgt es der Wind.

Nein, am offenen Grab gibt es kein hörbares Versprechen, Brücken zu bauen, wie es sich Angelika Scholte-Reh gewünscht hat. Verlassen steht sie da, das Grab vor sich, die Familie im Rücken, neben sich die Kränze „In ewiger Kameradschaft“ auf meterlangem Schwarzweißrot. Wahrscheinlich zu viel, um den Talar anzubehalten, vielleicht zu wenig, um einfach zu gehen und das Grab den „Kameraden“ zu überlassen. Einen Händedruck gibt’s für sie kaum. Blume für Blume fällt in das Grab, „Dein Tod war nicht umsonst“, hören welche. Nur einmal, sonst nichts. Artig strammgestanden, Hände an der Hosennaht die einen, cool und ungelenk die anderen, quälend langsam das ganze Defilee.

Auf der Straße geht’s dann flotter zu: In Fünferreihen aufgestellt und durch Bernsdorf gezogen, schweigend, rauchend. Gut 200 meist rechte Jugendliche ziehen los, Blaulicht vorneweg. Wohin? Zum Tatort? Dort steht ein Bernsdorfer mit seinen Fragen und schluchzt unvermittelt los: „Warum denn Polizei? Warum haben die denn Angst? Die tun doch keinem was! Das war doch ein deutscher Junge!?“ Die deutschen Jungs und Mädels nehmen keine Notiz, werden nicht mal langsamer bei dem Wäschekorb voll Blumen und den Fotos, ziehen vorbei, biegen dort ein, wo vorige Woche der Weihnachtsmarkt begann. Vielleicht eine Viertelstunde, schon stehen sie wieder. „Ich bedanke mich bei euch, dass ihr so zahlreich erschienen seid!“ ruft ein Smarter im Regenmantel.

Regentschaft der Rechten

Stefan K. steht neben einem Polizeiwagen, er war vorige Woche der Dritte im Bunde, nun ist er alleine hier. René H. liegt im Krankenhaus und Matthias F. auf dem Friedhof. „Hier ist jetzt alles zu Ende! Ohne dass in Bernsdorf Gewalt passiert!“ Von der Autorität des Überlebenden lassen sie sich nach Hause schicken. Oder doch zumindest fort aus der Stadt, mit ihren knapp 6.000 Einwohnern und den Hundertschaften der Polizei. Irgendwo werden sie sich schon aufwärmen. Kurzer heftiger Applaus und ein warmer Händedruck, Bürgermeister Menzel verbeugt sich, als er dies tut – ein Hauch von Montagsdemo, wenn auch mit neuen Vorzeichen: Staatsmacht neigt ihr Haupt vor der rechten Jugend. Offenbar hatte Stefan K. in den letzten Stunden die Regentschaft. Danach bleibt es ruhig, auch am Tatort.

Zwei Kumpels in Lonesdale-Jacken und Springerstiefeln halten dort Nachlese, auf Matthias lassen sie nichts kommen: „Wenn der ’nen schlechten Tag hatte, konnte den ein Neger anrempeln, ohne dass was passiert ist.“ Wieder und wieder versuchen sie, die regennassen Teelichter zum Leben zu erwecken. „Der Gerhard Schröder kommt doch bloß, wenn ein Ausländer von einem Deutschen erschlagen wird.“ Schimpfen auf die „Russen“ im Neubaugebiet, zündeln mit dem Feuerzeug und schließen mit einer Prophezeiung: „Im Jahr 2010 gibt es in Deutschland mehr Ausländer als Deutsche.“ Ganz bestimmt nicht in Bernsdorf. Das haben vor einer Woche fünfzehn Vietnamesen verlassen.

Bedauern gab es offenbar nicht aus dem Rathaus. Es scheint, dass viele erleichtert sind, fünfzehn Probleme, ein China-Imbiss und ein Asiamarkt weniger. Doch es gab auch Tränen. Mitschülerinnen weinten um ihre vier vietnamesischen Freundinnen und Freunde, die am vorigen Montag ihren letzten Schultag in Bernsdorf hatten.

Am nächsten Sonnabend wird der Bernsdorfer Alltag nachgeholt. Tanzstundenabschlussball in der „Bauernschänke“. Der Tanz war um eine Woche verschoben worden. „Alltag? Bloß nicht! Jetzt müsste es einen Runden Tisch geben“, sagt eine Mutter. Bitte keine Namen! Sie will reden, aber wo? Und mit wem? Probleme einfach auslagern, fortschaffen, aus der Stadt, aus dem Sinn und Polizeipatrouillen? Es schmeckt nach DDR. Die Bernsdorfer Vietnamesen werden so nicht wiederkommen. Der Bürgermeister solle einladen, sagt sie. Wird er es tun? Es gibt Redebedarf.