Schimmi kippt ins Androgyne

Medienbücher zum Fest (1): Pünktlich zum 30-jährigen Jubiläum der Reihe gibt’s ein „Tatort“-Buch – mit Verhören und Protokollen, so schwatzhaft wie erhellend

Ein ungewöhnliches Tier, das die Münchner Kommissare Leitmayr und Batic im Fahrstuhl entdecken: „Ui, schau, a Schmetterling“ – „Das ist ein Kartoffelchip!“ – „Schmarrn, das ist ein Zitronenfalter.“ – „Die gibt’s doch um die Jahreszeit gar nicht.“ – „In Brasilien schon.“ – „Wie soll er denn den ganzen langen Weg von Brasilien hierher kommen, da ist doch das Meer dazwischen.“ – „Dass du so gar nichts weißt. Die Kontinente waren doch früher beieinander!“

Der kuriose Dialog aus dem „Tatort – Frau Bu lacht“ ist von den Peanuts inspiriert, Drehbuchautor Günter Schütter hat ihn Charles M. Schulz geklaut. So kommt es, dass bayerische Kriminalbeamte plötzlich mit der naiven Weisheit eines Charlie Brown sprechen. Diese und andere Erkenntnisse verdanken wir „Ermittlungen in Sachen TATORT“, einem robusten Band mit über 300 Seiten „Recherchen und Verhören, Protokollen und Beweisfotos“ aus dreißig Jahren „Tatort“. „TATORT kann man nicht so einfach erklären“, schickt der Herausgeber Eike Wenzel seinem ambitionierten Projekt voraus – um anschließend eine illustre Expertenrunde das Thema von allen denkbaren Seiten beleuchten zu lassen.

Professoren (Knut Hickethier) und Studenten, Fernsehkritiker (Harald Keller) und Fernsehmacher (Dominik Graf) lieferten Aufsätze mal persönlicher, mal streng medienwissenschaftlicher Natur. Gespräche mit Regisseuren und Fernsehkomissaren schließlich runden die Themenpalette zu einem informativen Panoptikum.

Neben dem eingangs zitierten liebevollen Blick aufs Detail wartet das Buch aber auch mit einer weiteren Perspektive auf, die die Lektüre lohnt: Der „Tatort“ als „unterhaltende Ethnologie des Inlands“, als popkultureller Spiegel gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Kronzeuge dieser Lesart ist gleich der erste „Tatort“ überhaupt, „Taxi nach Leipzig“ vom 29. November 1970 – ein deutsch-deutsches Tranist-Roadmovie zu Zeiten des Kalten Krieges, mit kurios verzerrtem Blick auf die DDR. So also hat man sich damals „Drüben“ vorgestellt. Was all die folgenden Kommissare, Opfer und „Tatorte“ mit der bundesdeutschen Realität zu tun haben, das zieht sich als roter Faden durch fast alle Aufsätze.

Unterschiedliche Autoren aber kommen auch zu unterschiedlichen Ergebnissen: Clemens Niedenthal beklagt Schimanskis „archaisches Modell von Männlichkeit“, Michael Rutschky dagegen durchwühlt mit ikonografischer Neugierde Schimmis legendäre Jacke und findet darin Indizien für eine „überinszenierte Männlichkeit“, die ins Androgyne kippe: Rutschky interpretiert die „beutelartigen Brusttaschen ohne Mühe als müde, erschlaffte Brüste“.

Reich bebildert und weit gehend unterhaltsam geschrieben, taugt „Ermittlungen in Sachen TATORT“ aber auch für Laien als erhellendes Lesebuch und Nachschlagewerk. Der Fall ist damit natürlich längst nicht abgeschlossen. ARNO FRANK