Das Schweigen der Gäste

■ Das Staatsschauspiel Dresden gastierte mit „Das Fest“ im Thalia in der Gaußstraße

Ein paar Minuten lang ist nur Besteckgeklapper zu hören. An die hundert Menschen tauchen ihre Löffel in den Suppenteller – und alle, die keinen Platz mehr an der riesigen Tafel gefunden haben, müssen zugucken. Angespannte Minuten des Schweigens. Wer kennt sie nicht beim Essen am Familientisch, wenn wieder einmal dicke Luft war?

Hier sind sie besonders quälend. Denn Christian, der älteste Sohn von Helge, dessen sechzigster Geburtstag gefeiert wird, hat gerade eine Bombe hochgehen lassen. Beim Toast auf den Jubilar verkündet Christian, dass sein Vater ihn und seine Zwillingsschwester, die vor kurzem Selbstmord begangen hat, als Kinder fortgesetzt vergewaltigt hat.

Da bleibt einigen mitessenden Zuschauern der Bissen im Hals stecken. Einen aufwühlenden Theaterabend beschert uns Regisseur Michael Thalheimer mit seiner Inszenierung, die als Gastspiel des Staatsschauspiels Dresden an zwei Tagen dieser Woche im Thalia in der Gaußstraße zu sehen war. An der riesigen Geburtstagstafel zwischen die Schauspieler gesetzt, werden große Teile des Publikums mehr oder weniger zum Mitfeiern gezwungen. Dass zum Inzest nicht nur Täter und Opfer, sondern immer auch Dulder oder Wegseher gehören – diese Wahrheit führt uns Thalheimer damit rigoros vor Augen.

Zwischen den vielen unbekannten Gästen sitzt die „echte“ großbürgerliche Familie: die Mutter ein mit Haarspray zubetonierter Eisblock, die Geschwister neurotisch mit sich selbst beschäftigt, Opa und Oma mit Anekdötchen und Liedchen. Und der „Toastmaster“ bemüht sich mit Herrenwitzen um launige Harmonie.

Während Thomas Vinterbergs nach den Regeln der Dogma-Gruppe gedrehter Film, auf dessen Drehbuch das Theaterstück beruht, mit Naturalismus beeindruckte, treibt Thalheimer die Inzestgeschichte temporeich auf die Spitze. Das ist glänzend gespielt und absurd-komisch, wenn Satzfetzen durch ständige Wiederholung wie Beschwörungsformeln wirken – nimmt dem Ganzen aber auch viel von der beklemmenden Ernsthaftigkeit. Der jüngere Bruder Michael gerät Mario Grünewald allzu sehr zum Clown, Albrecht Goette der Vater oft zum greinenden Kind. Zwischen all dem lärmenden Getöse, dem hektischen Herumgerenne um den Tisch und der aufgesetzten Fröhlichkeit schlagen die stillen Momente um so heftiger ein. Etwa wenn Christian, von seiner Mutter aufgefordert, die Beschuldigungen zurückzunehmen, lange dasitzt und schweigt. Bis er sich endlich erhebt und sagt: „Einen Toast auf den Mörder meiner Schwester.“ Da klappert kein einziges Besteck mehr. Karin Liebe