Die Heimkehrer ins Land der Täter

Berliner Juden kommen zurück in ihre Heimatstadt. Not und Nostalgie ziehen sie an den Ort, aus dem sie einst vor den Nazis fliehen mussten

von PHILIPP GESSLER

Eugen Bergmann singt. „Ich hatt ’nen Kameraden, einen besseren findste nicht“, schmettert der 76-Jährige durch sein Wohnzimmer – jedoch nicht so laut, dass seine Frau, die nebenan schläft, davon wach werden könnte. Dann holt er seine Mundharmonika, eine Hohner, und bläst etwas ruppig „Oh Tannenbaum“. Auf dem Tisch liegt eine russische Ausgabe von Solschenizyns „Archipel Gulag“, dessen Insasse er war. Daneben ein Weltatlas, um die Gegenden zu zeigen, wo er inhaftiert war, und schließlich neben dem Diplom seines Vaters, übergeben vom belgischen König, was er zwei Mal betont, ein medizinisches Hausbuch, in dem der Berliner zeigt, welche Krankheiten er alle überlebt hat, in seinen 14 Jahren hinter Stacheldraht, zuletzt zusammen mit „deutschen Kriegsverbrechern“, wie es im Lager Inta am Polarkreis hieß.

Das ist absurd. Denn Bergmann ist Jude und floh im Zweiten Weltkrieg gerade vor der deutschen Wehrmacht und den Nazihäschern in die UdSSR. Dort aber wurde er, 17-jährig, als angeblicher „deutscher Spion“ von Stalins Geheimdienst verhaftet und geriet so in das Lagersystem, in das der Sowjetdiktator große Teile seines Volkes sperrte. Verrückt. So verrückt wie dieses ganze Jahrhundert. Und so unvorstellbar wie die Tatsache, dass der alte Mann mit den feinen Fingern, den muskulösen Armen und der leicht getönten Brille 1991 nach mehr als 55 Jahren in der UdSSR wieder zurückkehrte nach Deutschland, von wo ihn 1935 Nazis vertrieben hatten. Zurück nach Berlin, in seine Heimatstadt.

Jährlich kommen etwa eine Hand voll Juden in die Stadt zurück, in der sie geboren wurden oder aufwuchsen. In den letzten Jahrzehnten dürften es in ganz Deutschland wohl ein paar Hundert gewesen sein, wie eine Insiderin meint. Genaues sagen kann niemand, das Thema ist etwas heikel. Viele Rückkehrer wollen mit ihrer Geschichte lieber nicht in die Öffentlichkeit. Denn zumindest früher war es schon für Juden, die in der Nachkriegszeit hierzulande geboren wurden und lebten, nicht ganz einfach, sich vor allem gegenüber Juden aus dem Ausland dafür zu rechtfertigen, im „Land der Täter“ beheimatet zu sein. Umso schwieriger war es, die Rückkehr nach Deutschland zu legitimieren.

Dennoch kommen immer noch ehemalige Berliner zurück, berichtet Anat Bleiberg, die Leiterin der Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Erst neulich habe sie einen Anruf von einer alten Dame aus Großbritannien bekommen. Sie ist schwer pflegebedürftig und hätte wohl nur noch die letzten Tage in ihrer Geburtsstadt erleben können – von einem Pflegeheim ins andere.

Die Rente reicht nicht

Bleiberg vermutet vor allem drei Motive für die Rückkehrer: Rein pragmatische Gründe – etwa, dass hier ein Rentenanspruch besteht, eine Entschädigung gezahlt wird oder eine Pflegeversicherung Sicherheit gibt. In vielen Ländern, etwa in den Staaten Lateinamerikas, ist die Rente oft zum Überleben zu niedrig. Auch weil viele fluchtartig und meist ausgepresst bis auf den letzten Pfennig in den Dreißiger Jahren emigrierten mussten. Die Ausbildung in Deutschland war nichts mehr wert. Viele hatten trotz eines Lebens voller Arbeit nichts übrig, was sie fürs Alter sparen konnten.

Manche wollen auch ihren Kindern nicht zur Last fallen und siedeln deshalb zurück nach Deutschland, erklärt die Sozialexpertin. Andere kommen mit zunehmenden Alter weniger mit der Umgebung ihres Landes zurecht – beispielsweise empfinden sie die Orientalisierung Israels als befremdend. Und schließlich gebe es da auch noch „so eine Art Nostalgie“, meint Anat Bleiberg, zum Ende des Lebens in die Heimatstadt zurückzukehren.

Juri Elperin ist gerade erst angekommen. Er sitzt in einer Übergangswohnung, aus der er möglichst schnell ausziehen will – schon der Bibliothek wegen, die noch in Moskau ist und für die hier kein Platz wäre, wie der 83-Jährige betont. Elperin ist einer der führenden Übersetzer aus dem Russischen: Etwa 200 Werke russischer Autoren hat er ins Deutsche übertragen, unter ihnen etwa die Bestseller von Anatoli Rybakow wie „Die Kinder vom Arbat“ und „Jahre des Terrors“. Er selber ist Essayist und Mitglied des deutschen und russischen PEN. Wunderbare Geschichten kann er über Boris Pasternak erzählen, mit dem ihn eine lose Freundschaft verband.

Geboren in Davos, wuchs Elperin im flimmernden Berlin der 20er-Jahre auf, von denen er erzählen kann, als seien sie erst gestern vergangen. Er erlebte die Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Nazis. Ein Klassenkamerad wurde von Kommunisten erstochen und bildete die Vorlage für den NS-Märtyrerfilm „Hitlerjunge Quex“. Aber irgendwie seien sie in der Schule doch alle „Kameraden“ gewesen, meint Elperin.

Da sein Vater eine Druckerei besaß, die vor allem SPD-Schriften druckte, wurde er mit seiner Familie nach der Machtübernahme Hitlers 1933 ausgewiesen. Nach wenigen Jahren in Paris emigrierte die Familie nach Russland. Dort sah der Vater eine Zukunft für Intellektuelle. Doch die Hoffnung trügte. Die Familie litt unter den antisemitischen Wellen der Stalinzeit.

Schrittweise Rückkehr

Juri Elperin trat als Freiwilliger in die sowjetische Armee ein und ging im Frühling 1945 durch das zerstörte Berlin. „Ein bitteres Gefühl“, erinnert er sich. Hitler sei daran schuld, habe er sich gesagt, und die „dumme Bevölkerung“, die seinen Parolen folgte.

Zurück in der Sowjetunion, wurde Elperin Übersetzer – auch weil er als Jude immer wieder aus anderen Anstellungen entlassen wurde. Mit Unterbrechungen konnte er immer wieder Reisen in die DDR oder gar die Bundesrepublik unternehmen. Nun hat er sich entschlossen, endgültig nach Berlin zurückzukehren. Seit Herbst ist er deutscher Staatsbürger. Dies sei eben „mein Land und meine Kultur“, das Land Einsteins, Liebermanns, Kants und Goethes. Die deutsche Sprache sei ihm Heimat. Der zunehmende Antisemitismus in Russland ekele ihn. Politiker gingen mit judenfeindlichen Parolen auf Stimmenfang. Zwar gebe es Antisemitismus auch in Deutschland, aber hier tue der Staat etwas dagegen: „Das ist der grundlegende Unterschied.“

Berliner Schnauze

So zuversichtlich ist Lotte Donski nicht. Die rechtsradikale Welle erinnere sie an früher, sagt die 80-Jährige, so habe das damals auch begonnen. Eben hat sie in einem Hinterhof an der Schönhauser Allee im Stadtteil Prenzlauzer Berg die Wohnung gezeigt, in der sie früher mit ihrer Schwester und den Eltern wohnte. Dass der Fotograf sie dort wegen der frühen Dunkelheit sicherheitshalber ziemlich oft ablichtet, hält sie für völlig übertrieben: „Eine Schöne war ich nie“, sagt sie völlig zu Unrecht, „ich war nie 16 Jahre alt.“

Je länger man mit ihr redet, desto mehr kommt mit Worten wie „Beene“ und „nüscht“ der örtliche Dialekt hoch – und das, was man wohl „Berliner Schnauze“ nennt: „Langeweile kenn ick nich“, bemerkt sie, als die Fahrt durch den vorweihnachtlichen Berufsverkehr schier endlos zu werden droht. „Sie kennen sich aber hier nicht so gut aus, junger Mann“, sagt sie und weist den Weg durchs Straßengewirr.

Seit vier Jahren wohnt sie wieder in ihrer Geburtsstadt. Ihr Vater war Kommunist. Sein kleiner Tabakladen diente als Anlaufstelle für Parteigenossen. Einen Tag vor seiner Verhaftung tauchte Max Donski deshalb 1933 unter, floh „der Kinder wegen“ in die Sowjetunion und holte später seine Frau und die beiden Töchter nach.

Doch das Arbeiterparadies wurde zur Hölle für die junge Familie. Bei den ersten stalinistischen Säuberungen 1937 wurden ihre Eltern verhaftet – „natürlich waren sie Spione“, sagt Lotte Donski bitter. Ihre Eltern blieben mit kurzen Unterbrechungen bis 1956 in Haft. Sie selbst schlug sich, immer knapp am Hungertod, so durch. In Stalingrad heiratete sie 1941 einen Ingenieur des dortigen Traktorenwerks. Doch dann kamen die Deutschen, die sie nur aus dem Fernglas sah. Wochenlang im Bombenhagel, Hunger und Durst leidend, konnte sie nach Swerdlowsk fliehen – ihre anderthalbjährige Tochter überlebte die Strapaze nicht. Ihren Namen will sie zunächst nicht nennen: Alina.

Die Beerdigungsfrage

Lotte Donski kehrte schon 1965 einmal nach Deutschland zurück. Mit ihrem Vater, der von Walter Ulbricht eingeladen worden war, bereiste sie ein weiteres Mal ein Jahr später die DDR – in Thüringen starb ihr Vater plötzlich an einem Herzschlag.

Als ihre Schwester 1992 starb, „fing ich an, an Deutschland zu denken“. Die Preise in Russland stiegen so an, dass sie sich Besuche bei ihren Nichten und Neffen im sibirischen Nowosibirsk nicht mehr leisten konnte. Nach 62 Jahren in Russland entschloss sie sich deshalb, nach Berlin zu ziehen. Die russische Staatsbürgerschaft hat sie nicht abgegeben – denn so könne sie schneller nach Russland: „Ich brauche nur in die S-Bahn zu steigen und in Schönefeld ein Flugzeug zu nehmen“, betont sie. Mit dem Geld gehe das jetzt, und hier begraben zu sein mache ihr nichts. „Das ist mir ganz futsch.“ Billig sollte die Beerdigung allerdings werden, denn das Geld könnten ihre Verwandten in Russland viel besser gebrauchen: „Zwei-, dreitausend Mark sind viel Geld dort.“

Die Beerdigungsfrage hat Eugen Bergmann für seine Frau und sich schon geklärt: „In dieser Hinsicht ist bei mir alles in Ordnung“, berichtet er trocken. Zwei Gräber für 5.000 Mark seien auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee reserviert – dort, wo auch seine Mutter seit 1930 begraben liegt. Mit ihr sprach er nur Französisch. Und noch heute hat sich einen sachten französischer Singsang erhalten. Geboren in Charlottenburg, emigrierte er mit seinem Vater, seinem Zwillingsbruder und dem ältesten Bruder nach Riga, der Heimatstadt seines Vaters.

Doch der Vater fand er dort keine Anstellung. Der habe sich auch nicht für seine Kinder interessiert, meint Eugen Bergmann. Um nicht zu verhungern, habe er sich deshalb mit seinem Zwilling mit Gelegenheitsjobs und Stehlen über Wasser halten müssen. Einmal, erzählt er, als sie gerade einen kleinen Bäckerstand aufgeknackt und ausgeräumt hatten, seien sie über ihre halb verhungerte Nichte Lilly gestolpert. Doch statt die ihr angebotenen Kekse sofort zu essen, war ihre erste Frage: „Sind die koscher?“

Dann kamen die Deutschen. Eugen Bergmann konnte noch rechtzeitig entkommen. Sein Zwillingsbruder Richard starb in einem Konzentrationslager. Der Sohn von Eugen trägt heute seinen Namen. Er selbst habe 33 Gedenkblätter in Erinnerung an ermordete Verwandte an die Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem geschickt – alles Bergmanns.

In der UdSSR als „deutscher Spion“ verhaftet, konnte er sich noch nicht einmal auf Russisch verständlich machen. Da er so jung war, wandelte ein Militärtribunal eine wahllos verhängte Todesstrafe in sechsjährige Lagerhaft um. Im Lager unternahm er einen Selbstmordversuch. Als er 1942 volljährig wurde, bekam er nochmals zehn Jahre aufgebrummt. Denn er hatte dagegen protestiert, dass unter seine Pritsche an einem Abend schon ein Sarg gestellt wurde. 1950 schließlich kam er nach Inta bei Workuta am Polarkreis. „Ich war schon ein alter Lagermann“, erzählt Bergmann. In den Kohlegruben hat er dort gearbeitet. Die Deutschen, die dort inhaftiert waren, hätten ihm von ihrem Essen ab und zu etwas abgegeben. Einige seien „sehr, sehr anständig gewesen“.

Bis zum letzten Tag saß er seine Strafe ab, auch wenn er gar nicht weiß, weshalb. Entlassen wurde er 1955. Sein Studium in Riga bestand er mit Auszeichnung. Bis zur Pensionierung arbeitete er als leitender Ingenieur in einer Fischkonservenfabrik („160 Millionen Dosen im Jahr“).

Eigentlich wollte er dann nach Israel auswandern, aber auf Anraten seines Sohnes kam er 1991 nach Berlin. Angst vor Rechten habe er hier nicht: „Die sehe ich nur im Fernsehen.“ Und außerdem: „Was können sie von mir wollen? Wen störe ich?“

An der Wand neben dem Sofa hängen die Schwarzweißfotos seiner verstorbenen Verwandten, daneben eine Jubiläumsurkunde „50 Jahre Israel“. Und dann fällt einem auch wieder ein, wie das Lied über den alten Kameraden endet, von dem Eugen Bergmann nur die ersten Zeilen gesungen hat: „... als wär’s ein Stück von mir.“