Legendenpflege

■ Was ist wohl noch brauchbar vom linken Erbe der 70er Jahre: Neues Glas aus alten Scherben zeigen's – nicht nur im Logo

Der Mann hat es nicht leicht. Michael Kiessling tritt gegen eine Legende an, und das auch noch gegenüber einem überaus gnadenlosen – nämlich linken – Publikum. Aber das hat er sich selbst so ausgesucht. Einige Zeit war er mit dem Programm „Bukowski waits for us“ unterwegs – und hat ordentlich Lob eingefahren. Denn seine Tom Waits-Interpretationen sind nicht nur klasse, sie sind auch zum Verwechseln ähnlich. Meiner Freundin jedenfalls konnte Kiessling wochenlang vormachen, dass er der wahre Waits sei.

Nun tritt er gegen eine weitere Legende an, gegen Rio Reiser. Neues Glas aus alten Scherben heißt die Truppe, der Kiessling seit dem Sommer 1999 vorsteht. Und der Name ist keineswegs nur gut ausgedacht, denn mit Funky Götzner (Schlagzeug) und Dirk Schlömer (Gitarre, Gesang) sind Mitglieder des Originals Ton, Steine, Scherben dabei. Aus der Begleitband, mit der Rio Reiser ab 1986 auf Tour ging, kommen außerdem Jochen Hansen (Bass) und Mischka (Piano, Orgel) dazu.

Im Sommer war die Band schon mal in Hamburg, und es gab jede Menge skeptische Blicke. „Wie kann das gehen, dass jemand auf Rio Reiser machen will?“, lautete die Frage. Die Antwort: Macht er gar nicht.

Er behält während der Auftritte die Schuhe an, und die Stücke sind vollkommen neu arrangiert, am krassesten sicher das mit einen Samba beschleunigte „Mein Name ist Mensch“. „Ebbe und Flut“, „Steig ein“, „Alles verändert sich“, „Wenn die Nacht am tiefsten“ oder auch das großartige „Wann“ gehören zum Programm. Die Art und Weise, wie diese Band diese Stücke heute bringt, sorgt dafür, dass der scheinbar unvermeidbare Vergleich mit Rio Reiser schnell vergessen ist.

Regina Sommerfeld, die eine der besten Seiten über Rio Reiser im Internet (www.rio-raum.de) hegt und pflegt, kritisiert Kiessling zwar dafür, dass er nicht wie Rio das Herz auf der Zunge trage. Aber jeder Versuch, den zu imitieren, müsste ja ohnehin scheitern. Ob nun Echt den „Junimond“ wieder aufgehen lassen, ein Haufen Hip-Hop-Größen sich unter dem Titel Die Erben der Scherben das komplette Originalalbum Keine Macht für Niemand vornehmen, oder der Stuttgarter Freundeskreis „Halt dich an deiner Liebe fest“ neu auflegt: Niemandem davon könnte man dabei ins Herz schauen, wenn er oder sie das Maul aufmacht, wie es Lutz Kerschowski mal über Reiser sagte. Neues Glas aus alten Scherben ihrerseits tun jedenfalls gut daran, einen eigenen Weg angegangen zu haben, um die Musik von Rio Reiser neu zu beleben. Und vielleicht sind solche Konzerte ja auch Anlass und Anregung, mal darüber zu sprechen, was denn das Neue sein könnte, das von den Scherben der (linken) 70er Jahre heute noch brauchbar ist.

Übrigens: Ehe Neues Glas aus alten Scherben am Samstag in Hamburg spielen, können Reisefreudige sie schon am heutigen Donnerstag in Kiel (Pumpe) sowie morgen in Bremen (Moments) erleben. Dirk Seifert

Sa, 23.12., 21 Uhr, Logo