„Das sind legitime Gefühle“

Heute kommt es zum zweiten Verhandlungstag im Hamburger Reemtsma-Prozess. Nach seiner Entführung hatte der Sozialforscher Vergeltung verlangt. Die Kriminologin Monika Frommel über das Recht auf Rache, Hass und Wiedergutmachung

Interview JAN FEDDERSEN

taz: Jan Philipp Reemtsma äußerte nach seiner Entführung, seine Entführer bis ans Ende seiner Tage zu hassen. Vom Strafverfahren fordert er Vergeltung. Wie bewerten Sie diese Haltung?

Monika Frommel: Bei so schweren Verbrechen wie einer Geiselnahme ist die Rolle des Strafrechts eindeutig. Schon die hohe Mindeststrafe von fünf Jahren zeigt, dass Opfer in ihrer Straferwartung bestätigt werden sollen.

Aber Hass und Vergeltung sind als Motive des Strafrechts immer und gerade von Linken kritisiert worden.

Rache und Hass sind ebenso wie Versöhnungsbereitschaft legitime Gefühle. Die Zivilisation baut auf beiden moralischen Empfindungen auf. Aber selbst der Vergeltungsbegriff im 19. Jahrhundert setzte auf irdische Gerechtigkeit. Nicht Rache, sondern Proportionalität, das meint ein angemessenes Verhältnisses zwischen Tat und Reaktion.

Kann Strafrecht dem Opfer einer Straftat genügen?

Opfer schwerer Taten können in der Regel damit umgehen, dass die Formalisierung, die das liberale Strafverfahren mit sich bringt, prozessuale Rechte des Angeklagten betont. Schwierig ist die noch mächtige Tradition, Opfer zu neutralisieren.

Was ist damit gemeint?

Die Ignoranz gegenüber dem Opfer ist ein Relikt. In einer Demokratie müssen Normen sich daran messen lassen, dass sie dem Schutz potenzieller Opfer dienen. Das Verbrechensopfer repräsentiert die verletzte Norm. Das bedeutet, dass bei weniger gravierenden Verstößen auch ein Täter-Opfer-Ausgleich durchgeführt werden kann. Aber man sollte sich davor hüten, das versöhnungsbereite Opfer für moralisch wertvoller zu halten als die Menschen, die zu ihrem Wunsch nach Rache stehen. Nicht Täter-Opfer-Ausgleich, sondern Wiedergutmachung erscheint mir die angemessene Perspektive für ein demokratisches Strafrecht.

Mit Reemtsma ist ein Mann zum Opfer geworden, der zum linksliberalen Milieu gezählt wird. Er kann auf Mitgefühl rechnen. Warum fehlt es auf Seiten der Linken am Mitleid mit der Familie Hanns Martin Schleyers?

Wer damals klammheimliche Freude verspürte, folgte einem kriegerischen Freund-Feind-Schema. Auch der Polizei und der Strafjustiz wurde dieses Schema unterstellt, und bisweilen bestätigen sich solche Erwartungen gegenseitig. Dies verführte „die Linke“ der damaligen Zeit, im Strafrecht nichts anderes zu sehen als ein Herrschaftsinstrument. Vielleicht ist die strenge asketische Haltung, die Reemtsma einnimmt, hilfreich, um die zivilisierende Kraft eines fairen Strafverfahrens zu erkennen. Ein solches Strafrecht urteilt nicht über gut und böse, sondern überprüft gelassen zurechenbare tatbestandsmäßige Handlungen.

Entspricht dies der Praxis oder ist es Utopie?

In den 1970er-Jahren wäre es eine konkrete Utopie gewesen, die aber damals niemand verstanden hätte. Mittlerweile ist allen Beteiligten klar, dass ein faires Strafverfahren auch fair zum Opfer sein muss. Das bedeutet aber auch, dass es nicht darauf ankommen kann, ob ein Opfer sympathisch und der Täter unsympathisch ist. Eine opferorientierte Strafverfolgung wird mit großen Ambivalenzen umgehen müssen. Der kollektive Lernprozess wird erneut lauten: Es werden nicht Menschen verurteilt, sondern Taten.

Welche Rolle spielen die Medien?

Für die erfolgreiche Inszenierung „als unschuldiges Opfer`“ oder als „schuldlos Verdächtigter“ wird mit allen Stereotypen gearbeitet. Aber für die Strafjustiz darf es nicht darauf ankommen, ob sich Täter oder Opfer „gut“ inszenieren. Die Unabhängigkeit der Gerichte erweist sich immer dann, wenn sie auch gegen die Presse judizieren. Dies ist aber in diesem Verfahren nicht anzunehmen, da alle rechtlich zulässigen Strafzwecke in dieselbe Richtung weisen: Es handelt sich um einen kalkulierenden Täter, bei dem die Strafjustiz schon aus Gründen der Prävention daran interessiert ist, sein Kalkül zu durchkreuzen, mit ein paar Jahren Knast 30 Millionen zu ersitzen. Denn dieses Beispiel würde demoralisierend wirken. Opferinteressen und präventive staatliche Interessen verlaufen somit parallel.