Der Nachlass des Diktators

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

Der populäre jugoslawische Basketballspieler Haris Brkić wurde erschossen. Von Unbekannten mit zwei Kopfschüssen aus unmittelbarer Nähe ermordet. Der kleine Sohn des ehemaligen Tennisstars Boba Zivojinović wurde entführt. Er wurde für umgerechnet 2,5 Millionen Mark freigekauft. In einer Belgrader Grundschule stach ein Zwölfjähriger mit einem Messer auf seine Lehrerin ein. Fast jede Nacht hört man Schüsse in Belgrad und fragt sich, wen sie diesmal treffen. Die Chronik der Gewalt in Serbien setzt sich täglich fort. Man hat sich an die Gesetzlosigkeit gewöhnt.

Zehn Jahre lang hat das serbische Regime den Rechtsstaat verspottet. Die Unterwelt war verstrickt mit Polizei und Staatsführung. Nun sei sie „ganz außer Kontrolle geraten“, sagt der jugoslawische Parlamentspräsident Dragoljub Micunović. Das Regime Milošević hat die Staatskasse geplündert, der Staat war für die Nomenklatura ein Spielfeld für persönliche Bereicherung. Die internationale Isolation und das Wirtschaftsembargo haben das Ihre getan. Viele Bürger suchten einen Ausweg aus der Armut in der Kriminalität.

Sie ist der traurige Nachlass der Herrschaft von Slobodan Milošević. Von einem Krieg in den nächsten führte er die Serben, eine ganze Generation ist mit Tod und Zerstörung groß geworden. Kriminelle, wie der berüchtigte Freischärlerkommandant Zeljko Raznatović Arkan, der selbst erschossen wurde, wurden als Volkshelden glorifiziert. Ein kriminelles Regime lässt eine kriminalisierte Gesellschaft zurück.

In zwei Tagen wählt Serbien seine neue Regierung (siehe Kasten). Vieles soll und muss sich ändern. Allein in Belgrad besitzen 220.000 Menschen legal eine Waffe, die Zahl der nicht registrierten wird auf das Doppelte geschätzt. „Jeder trägt eine Waffe, da fühle ich mich einfach sicherer. Als Selbstschutz, weißt du“, sagt der 19-jährige Mirko. Mirko hat kaum etwas zu befürchten. Bei einer Razzia wurde er kürzlich mit einer Pistole erwischt und für eine geringe Geldstrafe wieder freigelassen. Mirko ist froh, dass der „Schuft Milošević“ endlich weg ist.

Die Arbeitslosigkeit in Serbien liegt bei 50 Prozent, das Durchschnittseinkommen beträgt etwa 3.200 Dinar (rund 100 Mark). Die meisten Betriebe sind bankrott, viele leben von Sozialhilfe. Die politische Wende in Serbien – vor drei Monaten siegte bei den Präsidentschaftswahlen der Kandidat des Oppositionsbündnisses DOS, Vojislav Koštunica – hat bisher wenig Auswirkung auf das Alltagsleben.

Kaum Geld zum Leben

Zoran Banjanin ist Besitzer eines Kolonialwarenladens. „Schon lange war der Markt in Serbien nicht so stabil, endlich können die Preise frei gebildet werden. Aber die Menschen haben kein Geld“, erzählt er. Vor der Wende im Oktober kostete ein Kilo Zucker zum Beispiel 8 Dinar. Man bekam aber keinen. Jetzt gibt es genug Zucker, nur: Jetzt kostet er 45 Dinar. Seine Kunden kaufen vorwiegend Brot, Milch, eventuell Zeitungen. Waschpulver oder Wein seien Luxus, sagt er. Die meisten müssten schon anschreiben lassen. Jahrelang musste der dreißigjährige Banjanin mit ansehen, wie dem Milošević-Regime genehme Geschäftsleute den Markt unter sich aufteilten, wie „Korruption die Gesellschaft allmählich zerfraß“. Er hat keine Demonstration gegen das Regime versäumt. „Mal schauen, ob es nun anders wird, ob endlich Politik und Wirtschaft getrennt werden“, sagt Banjanin.

Dezember und Januar sind in Serbien die Monate des Feierns. Die orthodoxen Serben feiern Weihnachten und Neujahr im Januar, nach dem Julianischen Kalender, aber auch Silvester, nach dem Gregorianischen Kalender. Außerdem feiern viele Serben Sankt Nikolaus und Johannes den Täufer als Schutzheilige der Familie. Gäste werden zu Hause empfangen, Unmengen von Speisen und Getränken aufgetischt, Spanferkel und Bohnengerichte dürfen nicht fehlen. Es ist eine Frage des Prestiges, sich als guter Gastgeber zu zeigen. Manche Familien geben dafür den letzten Pfennig aus. Doch vergebens warten dieser Tage die mit Nahrungsmitteln voll gestopften Läden auf das große Geschäft – obwohl die meisten Händler Kredite auf zwei Monate genehmigen. Wegen der Dürre im vergangenen Sommer kostet selbst ein Kilo Bohnen um die 180 Dinar. Das Kilo Lamm- oder Rindfleisch rund 200 Dinar. Für viele ist das einfach zu teuer.

Der öffentliche Verkehr in Belgrad ist eine Prüfung für Geduld und Toleranz. Die meisten, immer überfüllten Autobusse sind schrottreif. „Ich muss mich überwinden, mit dem Bus zu fahren“, sagt die Postbeamtin Branka Popovic. „Schon zweimal wurde ich dort ausgeraubt.“ Doch vor einigen Tagen erkannte auch Branka Popović, dass sich etwas verändert. Sie wartete wie immer auf einen schmutzigen, verrosteten Bus und konnte es kaum fassen, als stattdessen ein glänzend roter Wagen erschien. Die Sitze waren bunt und sauber. Es war einer der dreißig Autobusse, die Deutschland für Belgrad gespendet hat.

„Machen wir ihn fertig!“

Angesichts der Parlamentswahlen am Samstag ist es politisch ungewöhnlich ruhig in Serbien. Der Wahlkampf gleicht einer Pflichtübung, hitzige Reden, wie sonst, bleiben aus. Die Demokratische Opposition Serbiens (DOS) angeführt vom jugoslawischen Bundespräsidenten Vojislav Koštunica, tritt selbstsicher unter dem Motto „Machen wir ihn fertig!“ an.

Und als derjenige, der fertig gemacht werden soll, nämlich Slobodan Milošević, bei einem privaten Belgrader Fernsehsender auftritt und sich über Gott und die Welt empört und im alten Stil – arrogant und angriffslustig – sich als einzigen „Beschützer der serbischen nationalen Interessen“ anbietet, regte das niemanden besonders auf. Der einst gefeierte und dann gefürchtete charismatische Volksführer gibt das traurige Bild eines Menschen, der jeden Sinn für Realitäten verloren hat. Viele Serben fragen sich, wie sie je auf diesen Mann hereinfallen konnten.

Mit Mühe und Not kann sich Milošević an der Spitze der Sozialistischen Partei Serbiens halten. Zwei seiner einst engen Mitarbeiter haben eigene Parteien gegründet, können mit einer Anzahl von unzufriedenen Milošević-Wählern rechnen. Der Sieg der DOS scheint sicher. Das Belgrader Institut für Geisteswissenschaften geht davon aus, dass über 70 Prozent der serbischen Wähler übermorgen für die DOS stimmen werden. Es heißt lediglich, den auf der Straße errungenen Machtwechsel zu legalisieren und glaubwürdig zu machen. Ob sich jedoch Koštunicas DOS an der Macht halten kann, hängt vom Tempo der wirtschaftlichen Erneuerung ab.

„Die öffentlichen Schulden Jugoslawiens betragen rund 21 Milliarden Dollar. Das sind 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“, erklärt Ljubomir Madzar, ein bekannter jugoslawischer Wirtschaftsexperte. „Normalerweise wird ein Staat für bankrott erklärt, wenn seine Schulden 80 Prozent erreichen.“ Da könne nur noch Unterstützung aus dem Ausland helfen.

Die Vertreter von DOS bemühen sich im Wahlkampf zu erklären, dass sie noch gar nicht an der Macht seien, noch nichts Wesentliches verändern konnten. Nur dank ausländischer Hilfe sind die Löhne im Gesundheits- und Bildungswesen, der Offiziere und der Richter merklich gestiegen. Die Renten ziehen nach. Die Versorgung mit Strom, Gas und Heizöl ist noch bis zum Jahresende sichergestellt.

Die gerade wiedergefundene Hoffnung auf bessere Zeiten in Serbien wird vom mühseligen Alltag getrübt. Vom Siegesrausch nach dem Machtwechsel ist kaum noch etwas zu spüren. Noch hallen nachts Schüsse in Belgrad.