Teddy komm nie wieder

Wohin mit dem Berg von altem Spielzeug, wenn mit dem Nachschub der Weihnachtsbescherung der Platz im Kinderzimmer knapp wird? Einfach wegwerfen? Es gibt bessere Lösungen

von VERENA KERN

Das Paradies sieht zweifellos anders aus. Es liegt nicht in den nüchternen Funktionsbauten eines Gewerbehofes. Dort dudelt kein Kuschelrock. Es riecht nicht nach Schweiß, Staub, Zigaretten. Und das Wort „Spielzeugkramkiste“ käme niemandem über die Lippen.

Aber es kommt auf die Perspektive an. Stell dir vor, du öffnest eine Tür und betrittst einen großen, hellen Raum, fünfzig Quadratmeter, vielleicht mehr, vom Boden bis zur Decke voll mit Spielzeug. Und du kannst dir nehmen, was du willst. Du stopfst dir die Taschen voll, klemmst dir noch etwas unter den Arm, und vielleicht hilft dir eine freundliche Dame mit einer Plastiktüte aus. Auf dem Nachhauseweg hast du schwer zu tragen, aber das macht dir nichts aus. Ist vielleicht doch eine Art Paradies, klingt wie ein Weihnachtsmärchen.

Herr Schildt und Herr Schulz schütteln beide den Kopf. Viel Spielzeug? „Nein, viel ist das nicht“, sagen sie, „vor Weihnachten haben wir immer wenig hier, geht ja alles weg vor dem Fest.“ Die beiden Herren sitzen im Chefzimmer der Geschäftsstelle Süd-Ost der Berliner CeWO GmbH, Gewerbehof Neukölln, Glasower Straße 60. Die schlichte Büroausstattung ist neu, die Stühle sind bequem, es gibt Computer, ein Radiogerät, einen Kühlschrank, große Fenster, viel Licht. Die beiden lächeln wie stolze Existenzgründer, und zumindest in der seltsamen Welt des zweiten Arbeitsmarktes trifft das in gewisser Weise auch zu.

Draußen, im großen Arbeitszimmer, stapeln sich die Spielsachen. Puppen, Teddys, Brettspiele und Puzzles, Bälle, Autos und Bagger, Kassetten und Bücher, auch ein Tischfußballspiel ist dabei und mehrere Regalmeter von der Art Krimskrams, die jedes Kind zu einem halbmanischen Sammler machen kann. Dass die Sachen gebraucht sind, erkennt man fast nur an den fehlenden Verpackungen.

Mit Trödel aller Art handeln viele. In einer Stadt wie Berlin finden jedes Wochenende dutzende Flohmärkte statt. In der Adventszeit kommen noch die kirchlichen Weihnachtsbasare dazu, deren Erlös karitativen Zwecken zugute kommt. Die Zahl privater Entrümpelungsfirmen ist Legion. Selbst Obdachloseninitiativen mischen inzwischen in der Branche mit und bieten, wie etwa der motz-Trödel in der Zossener Straße in Kreuzberg, Secondhandwaren in Lagerhallen oder im Internet mit Preisnachlässen für Einkommensschwache an. Auch diverse Sperrmüllentsorger sind dazu übergegangen, Brauchbares weiterzuverkaufen. Aber das, was Wolfgang Schildt und Karl-Heinz Schulz machen, ist etwas Besonderes. Denn sie verkaufen nicht, sie verschenken.

Schulz, 58, ist von Haus aus Maschinenbauingenieur. Seit sechs Jahren leitet er die Neuköllner CeWO-Geschäftsstelle und ist ihr einziger Festangestellter. Seine 95 Mitarbeiter, die derzeit in elf Projekten arbeiten, sind allesamt ABM-Kräfte, auch Wolfgang Schildt, 57, gelernter Ökonom und Leiter des Projekts „Spielzeugkramkiste“.

Eine wechselvolle Vergangenheit hat auch die CeWO. Das ehemalige Transformatorenwerk Oberschöneweide, TRO, wurde nach der Wende mitsamt seinen achttausend Mitarbeitern abgewickelt und zunächst in eine Auffanggesellschaft umgewandelt. Unter dem neuen Namen Centrum für Wirtschaftsentwicklung und Weiterbildung Oberschöneweide, CeWO, beschäftigt die Firma inzwischen in ihren vier Geschäftsstellen vierhundert ABMler in 47 sozialen Projekten. Ein mittelständischer Betrieb, würde man in der freien Wirtschaft sagen. Ein ABM-Träger der „mittleren Größe“, sagt CeWO-Geschäftsführer Hartmut Schneider.

ABM-Projekte wie die „Spielzeugkramkiste“ gibt es seit einigen Jahren in fast allen Bundesländern. Die Idee ist eigentlich genial. Altes Spielzeug wird gesammelt, aufgearbeitet und an Bedürftige verschenkt. Es geht an Sozialhilfeempfänger, an Heime und in Krisengebiete. Und eigentlich können alle zufrieden sein: die Empfänger, die Spender, die Arbeitslosen, selbst der Steuerzahler und natürlich auch die Müllentsorger, die seit Jahren predigen, dass Spielzeug in der Restmülltonne nichts zu suchen hat.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten Ende vergangenen Jahres exakt 1.038.296 Kinder in Haushalten, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Während ihnen die Mittel fehlen, sich Spielzeug zu kaufen, weil in den Regelsätzen dafür nur rund drei Mark vorgesehen sind, ist jeder Durchschnittshaushalt froh, zumindest einen Teil des Spielzeugberges los zu sein, der sich in einem durchschnittlichen Kinderzimmer über die Jahre unwillkürlich derart auftürmt, dass sich die Kleinen kaum mehr entscheiden können, womit sie überhaupt spielen wollen. Der Berg wird etwas kleiner, man tut etwas Gutes, und die CeWO holt die ausrangierten Sachen sogar selber ab.

„Auch der Steuerzahler hat etwas davon“, sagt Karl-Heinz Schulz. Und dann erzählt er die Geschichte mit dem Wasserbett. Stellen wir uns vor, Sozialhilfeempfänger X braucht ein Bett, er hat Anspruch darauf, ein Bett gehört zum Lebensbedarf. Das Sozialamt schickt X nun beispielsweise zur CeWO, die neben altem Spielzeug auch Kleinmöbel, Hausrat und Haushaltsgeräte sammelt, aufarbeitet und weitergibt, und X kann sich eines der vorhandenen Betten aussuchen. Er kann wählen, aber er kann nicht wählerisch sein. Wenn ihm keines der Betten gefällt, wenn er sagt, ich will lieber ein Wasserbett, dann müsste ihm die CeWO eine Bescheinigung ausstellen, dass gerade kein Bett da war. Nur dann wäre das Sozialamt verpflichtet, ihm den Kauf eines neuen Bettes zu finanzieren. „Aber das machen wir natürlich nicht“, sagt Schulz. Und damit hat der Steuerzahler, der für Sozialhilfe jährlich rund vierzig Milliarden Mark netto aufwendet, ein wenig Geld gespart. Und das ABM-Projekt seine Nützlichkeit bewiesen.

Und was ist mit den Arbeitslosen? AB-Maßnahmen sind eine Art Training, der Versuch, Arbeitslose fit zu halten beziehungsweise fit zu machen für den ersten Arbeitsmarkt, wie Schulz und Schildt immer wieder betonen. Aber das ist gar nicht so einfach, denn das oberste ABM-Gebot lautet: Tue nichts, was den ersten Arbeitsmarkt irgendwie tangieren könnte. Es ist, als wolle man jemandem den Umgang mit dem Kapitalismus beibringen, indem man ihm ein wenig Spielgeld in die Hand drückt. Aber alles andere wäre, klar, ein Fall von Wettbewerbsverzerrung.

Für die ABM-Träger bedeutet das, ebenfalls klar, dass ihr Handlungsspielraum stark eingeschränkt ist. Sie dürfen beispielsweise in Kitas Verschönerungsmaßnahmen durchführen, aber keinerlei Renovierung. Sie dürfen alte Menschen im Geriatriebereich betreuen, aber keinesfalls pflegen. Sie dürfen keinen Gewinn erzielen. Nur mit Zettelaktionen dürfen sie auf sich und ihr Angebot aufmerksam machen. Ihre Infoblätter dürfen sie in Hausbriefkästen werfen, aber nicht in Geschäften auslegen. Hat ein Projekt durch Mund-zu-Mund-Propaganda erst einmal sein Stammpublikum gefunden, wird es auch bald schon wieder eingestellt, denn AB-Maßnahmen laufen maximal zwei Jahre lang. Die ABM-Kräfte selbst sind in der Regel nur ein Jahr dabei, eine Verlängerung ist nur in Ausnahmefällen möglich. „Spätestens nach zwei Jahren“, sagt Wolfgang Schildt, „muss man sich wieder einreihen in die lange Schlange der Langzeitarbeitslosen.“

Die CeWO-Geschäftsstelle Süd-West in der Kreuzberger Naunynstraße 68 liegt im Hinterhaus, erste Etage. Es ist früh am Morgen. In der Mitte des kleinen Arbeitsraumes sind mehrere Tische zusammengeschoben, ringsherum sitzt ein halbes Dutzend ABM-Kräfte wie im schulischen Werkunterricht. Die Männer hantieren mit Schraubenzieher und Schmirgelpapier. Hier wird ein Spielzeugauto gereinigt, dort ein Puppenhauselement abgeschleift, um später neu gestrichen zu werden. Die einzige Frau sitzt an einem Tisch in der Ecke und kämmt den Puppen das Kunsthaar. An den Wänden hohe Regale voll mit Kinderbüchern und Spielzeug von der Sorte, die man auf Flohmärkten findet, wenn man nicht früh genug gekommen ist.

Der größte Teil der Arbeitslosen, die vom Arbeitsamtsvermittler mit einer so genannten Zuweisung – nicht immer freiwillig – in ein ABM-Projekt geschickt werden, haben nicht einmal eine Ausbildung. Junge Leute, denen es nie gelungen ist, sich im ersten Arbeitsmarkt zu behaupten, in jener Arbeitswelt, die nun in der ABM-Maßnahme für sie simuliert wird. „Wir versuchen hier so zu arbeiten wie auf dem ersten Arbeitsmarkt“, sagt Manfred Pallasch und seine Stimme ist rauchig wie die von Gilbert Bécaud.

Pallasch war Kaufmann, Techniker, EDV-Berater, jetzt ist er Leiter der Kreuzberger CeWO-Geschäftsstelle und wie Schulz als Einziger festangestellt. „Wir sind streng“, sagt er. Strikte Arbeitszeiten, strikte Pausenregelungen, wer sich etwas zuschulden kommen lässt, fliegt raus. Viel mehr kann man nicht tun. Manchmal flieht Pallasch in Galgenhumor. „Ihr könnt doch froh sein“, sagt er dann seinen Mitarbeitern, „für euch ist es nach einem Jahr vorbei, ich habe ‚lebenslänglich‘.“

Pallaschs Spielzeugprojekt heißt „Kinder für Kinder“, aber meistens kommen die Eltern, denen man dann, wie Pallasch sagt, auf die Finger schauen muss, damit sie nicht zu viel einpacken. Es soll auch schon vorgekommen sein, dass das Spielzeug im Trödelladen um die Ecke landete.

Die Zahl der Abholer ist ohnehin gering. In einer guten Woche sind es zwanzig, oftmals nur drei. Wenn mal ein Kind vorbeikommt, dann, sagt Pallasch, ist es wie Weihnachten. „Die sind ja nicht so verwöhnt. Die freuen sich ja richtig.“ Und dann wissen seine Leute auch wieder, warum sie das alles überhaupt machen.

VERENA KERN, 36, ist Redakteurin im taz.mag. Wie und wo sie dieses Jahr Weihnachten verbringt, wird sich, wie so vieles, erst im letzten Moment entscheiden.