Rien ne va plus

Nicht umsonst fällt das wärmste Fest des christlichen Kalenders mit dem Beginn des Winters zusammen. Weihnachten ist ein kultureller Aufstand gegen die Macht der Natur. Ein Fest der Ambivalenz. Der Reinigungsrituale, die misslingen. Auf die Überforderung gibt es nur zwei Antworten: kollektive Manie und Depression des Einzelnen

von CHRISTIAN SCHNEIDER

Warum rieselt der Schnee leise? Die einfache Antwort wäre, weil schließlich auch der See stumm und starr ruht. In der Winterluft werden die Lebensäußerungen ruhiger, die Bewegungen langsamer, die umgebenden Laute werden verschluckt: Alles verändert sich so sehr, dass selbst das, was nie im Leben ein Geräusch produziert, die Frage nahe legt, wie es wohl eigentlich klingen müsste. Irgendetwas zieht sich in der seltsam derealisierenden Atmosphäre des einbrechenden Winters zusammen, alles verliert an Tempo.

Winterbilder sind schon en nature kaum weniger irreal als die Szenarien der beliebten „Schneeschüttler“, jener Mini-Soaps im Glaskugelformat, mit denen viele ebenso ernsthafte wie erwachsene Menschen ganze Städte und Landschaften im Handumdrehen in Seifenflockenwintermärchen versinken lassen. Ernsthafte Menschen vom Banker bis zum Erdkundelehrer, die eingestandenermaßen beim Zuschauen kindlich werden – und sich ganz unverfroren an der Regression wärmen. Steckt darin die spielerische Abbreviatur und magisch-zauberische Bewältigung jener regelmäßig eintretenden Klimakatastrophe, die unsere Vorfahren Jahr für Jahr zu überleben hatten?

Im strengen Winter sind die Menschen der nördlichen Halbkugel mehr als in jeder anderen Zeit auf Glück, Vorsorge und vor allem aufeinander angewiesen. Mit zunehmender Kälte bekommt Wärme Konjunktur, auch und gerade die so genannte mitmenschliche. Vielleicht ist deshalb Weihnachten, der Beginn des Winters, was den emotionalen Gehalt angeht, das wärmste Fest des christlichen Kalenders.

Alle unsere großen Feste haben etwas von einem kulturellen Aufstand gegen die Macht der Natur. Den Beginn der großen Schreckenszeit Winter, dessen bedrohliche Macht in früheren Zeiten wir modernen Menschen kaum mehr bewusst nachvollziehen können, konterkarieren wir Kultur- und Christenmenschen mit dem Fest einer Geburt, die die Hoffnung schlechthin signalisieren soll. Auf Ostern hingegen, da die „lebbare“, die warme Jahreszeit beginnt, datieren wir die Feier des christlichsten aller Tode. Um den ihn revozierenden Akt der Auferstehung dann doch besser gleich in eine andere – die himmlische – Sphäre zu verlegen. Beides sind Wendepunkte. Keineswegs nur volkstümelnde Pedanten verweisen auf die Koinzidenz der christlichen Hauptfeste mit den heidnischen Sonnenwendfeiern.

Wendezeiten sind stets Zeiten der Reinigung. Wo sich Tod in Leben und Leben in Tod verwandelt, wird die rituelle Reinigung nötig, denn in beiden Fällen wird die so genannte natürliche Ordnung gleichermaßen bestätigt wie verletzt. Jeder Tod, jede Geburt bedeutet eine Störung des magisch-rationalen Gleichgewichts, die wir Aufgeklärte mit Interesse und Distanz an so genannten primitiven Kulturen studieren – und selber distanzlos, aber abergläubisch in den Riten unseres Alltags bestätigen. Beides gibt Anlass zur Entschuldung, zur Bereinigung des Frevels, die Ruhe der Welt gestört zu haben. Das gilt seit Menschengedenken. Was wechselt, ist die kulturelle Kodierung.

In der komplizierten Gattungsgeschichte des Menschen als der einzigen Spezies, deren Natur die Kultur inhärent ist, gibt es keinen größeren Schrecken als die Störung der Kontinuität, den Übergang. Ein großer Teil unserer kulturellen Höchstleistungen besteht im Versuch, ihn zu bannen. „Die Natur macht keine Sprünge“, raunen uns die Philosophen zu und meinen, mit dieser Versicherung wenigstens die katastrophischen Übergänge aus der Welt geredet zu haben.

Was sich von Nichts zu Etwas wandelt, ist genauso wie das, was den umgekehrten Weg nimmt, uneindeutig und gefährlich. Übergänge als Erschütterungen der kanonisierten Ordnung signalisieren Chaos, Unsicherheit, Schmutz. In den „kalten Kulturen“ (Lévi-Strauss) werden sie rituell geregelt: Der Knabe wird zum Mann, das Mädchen zur Frau, indem sie – meist schmerzhaften – Prozeduren unterworfen werden. Ihre im Ritus gestaltete „soziale Geburt“ soll den Einzelnen etwas von dem Schmerz einbrennen, der alle Veränderung begleitet. Jeder Ritus impliziert eine Einschüchterung als Memento der Tatsache, dass alle unsere kulturellen Taten im Schatten der nie zu stillenden Angst vor der Übermacht der Natur stehen. Einer Natur, die wir auch in uns selber spüren. Feste als kultureller Aufstand gegen die Macht der Natur gelten notgedrungen auch unserer eigenen, der inneren Natur.

Im Weihnachtsfest kulminiert all dies in fataler Weise. Wir wohnen in ihm kollektiv der Geburt der Hoffnung bei, die uns über die schreckliche Eiszeit bringen soll. Wir entdecken mit der Kälte Jahr für Jahr das einfache Gegenprinzip der Wärme als Nähe. Wir rücken emotional zusammen und stellen fest, dass wir diese Nähe nicht lange aushalten. Wir verstehen gleichsam in einem Atemzug den Frevel des Übergangs und die Notwendigkeit, sich von ihm zu reinigen. Wir stoßen mit der sozialen Inszenierung der Wärme an unsere natürlichen Grenzen. Wir sollen uns als Christen über die Ankunft des Weltretters freuen – und tun dies im unverrückbaren Bewusstsein des bald folgenden Opfertods. Kurzum, wir stehen bei diesem „Fest der Freude“ in Wahrheit so zwischen zwei Feuern, wie Buridans Esel zwischen den Heuhaufen. Es ist schier zum Verhungern.

Weihnachten ist das Fest der Ambivalenz. Es erinnert uns nachdrücklich an unsere konstitutionelle Zerrissenheit zwischen Kultur und Natur. Christi Geburtstag ist ein so überdeterminiertes, ein so „unmögliches“ Fest mit derart vielen auseinander weisenden Implikationen und Forderungen, dass wir braven Kulturbürger, die wir doch alle gelernt haben, die uns gestellten Aufgaben zu erfüllen, nur resignieren, nur scheitern können. Mit einem Wort: An Weihnachten werden wir notwendigerweise depressiv. Auf dieses Fest der Überforderung kann es kaum andere als eine der beiden klassischen Antworten geben, mit denen wir auf Zumutungen zu reagieren pflegen: die Manie oder die Depression. In Gesellschaften wie der unseren haben wir das säuberlich aufgeteilt: Die Manie wird „sozialisiert“, auf die kollektive Inszenierung des Festes gerichtet; die Depression bleibt den Einzelnen.

Auch Depression ist ein – allerdings meist misslingender – Reinigungsversuch. In der Depression versuchen wir, den Überforderungen der Kultur zu entkommen. Wir versuchen, unsere kulturelle Haut abzuwaschen, und prüfen, unglücklich und unendlich verlangsamt, die Chancen, unsere natürlichen Ressourcen zu mobilisieren. Jede Depression ist der Versuch, sich von der Welt zu trennen. Und jede Depression beinhaltet die „Entdeckung der Langsamkeit“ – nicht als Vergnügen, sondern als Entzug des Tempos.

Im depressiven Rückzug erleben wir seltsam affektgereinigte Zeitlupenbilder, die auf der Kippe von Beängstigung und Bedeutungslosigkeit stehen. Depressive kennen die Bilder vom (fast) geräuschlos rieselnden Schnee, dem starren See, der alles bedeckenden weißen Oberfläche nur zu gut – nicht nur zur Weihnachtszeit. Ihnen jedoch sind sie aller Romantik und jeglichem Weichzeichnereffekt entrückt. Es sind die zerdehnten Gegenbilder zur gnadenlosen „Lebendigkeit“ des Alltags, die wir so lange als vertraut erleben, bis es – was eigentlich? – uns einmal auf dem falschen Fuß erwischt, uns ausspeit und sozusagen an die Natur zurücküberweist.

Depressionen sind stets ein Akt der Notwehr. Verzweifelte Vergeltungsversuche einer überforderten Natur – und insofern das Komplement jedes Fests, das wir als kulturelle Replik auf die Zumutungen der Natur verstanden haben. Die Depression als Versuch der Reinigung scheitert deshalb notwendig, weil wir unsere konstitutionelle „Doppelstaatsbürgerschaft“ einfach nicht loswerden können. Es gibt für uns so wenig ein eindeutiges „Zurück zur Natur“ wie einen naturentbundenen Eskapismus ins reine Reich der Kultur.

Weihnachten als kultureller backlash gegen die Natur krankt daran, dass noch im Ritus ein Stück jener Natur wiederbelebt wird, die wir gerne verleugnen würden. Mit jedem „weihnachtlich glänzenden Wald“ werden wir just auf die „Naturbasis“ zurückgeworfen, die wir im Ausbruchsversuch der Depression vergebens gegen die Übermacht der Kultur bemühen. Tatsächlich, irgendwie heißt Weihnachten auch: Rien ne va plus.

Unser Superfest ist eine notwendigerweise missglückende Katharsis, denn es führt uns zwingend vors unüberwindliche Dilemma, nicht genau zu wissen, was sich hier wovon reinigen soll. Wenn wir in diesem Fest auf die einmalige Verdichtung unseres schönen und prekären Doppelstatus als Naturteilnehmer und Kulturwesen treffen wie auf eine künstlich begrünte Betonwand, so erinnert uns das – seltsame Ironie – indirekt, aber wirkungsvoll an das Dilemma unserer Vorfahren. Die schon immer ein Fest gegen die heranrückende Not ausrichteten und es irgendwann mit dem christlichen Mythos verknüpften. Es ist vielleicht nicht ganz einfach, aber die Tatsachen sprechen dafür: Auch dies ist zu überstehen.

Jedes Jahr, in dem wir am Krisenpunkt Weihnachten gewahr werden: „Wir haben es wieder einmal geschafft“, gibt uns das die seltsame Sicherheit: Nun können wir auch den bedrohlichen Winter und danach leicht das ganze nächste Jahr überleben. Es wird alles, auch wenn wir nicht so genau verstehen, warum, unauffällig und geräuschlos weitergehen. Am Weihnachtsfest erleben wir das Wunder der Koexistenz von Ausnahmesituation und Normalität. Und genau das ist der Grund, warum der Schnee leise rieselt.

CHRISTIAN SCHNEIDER, 49, ist Soziologe und Forschungsanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Weihnachten wird er im Schnee verbringen