Zwischen Opferrolle und Rinderrouladen

Schenkt man Erwachsenen gar nichts und Kindern dafür mehr? Soll man auf Familie machen? Jedes Jahr werden die Weihnachtsrituale komplizierter

von DETLEF KUHLBRODT

Das erste angenehme Weihnachtsgefühl kam in einem Omacafé in Frohnau vorbei. Frohnau hatte nach Weihnachtsgebäck, Essig und tatsächlich auch Aprikose geduftet und im dortigen Buddhistischen Haus dachten wir kurz, hier spukt’s wohl, was aber angenehm warm war. Und dann wurde Schalke ja auch Weihnachtsweltmeister, und die angenehmen Gefühle wichen wieder der Nervosität.

Weihnachten ist kompliziert. Für alle natürlich. Besonders für Junggesellen, die weit weg von ihren Eltern und Geschwistern wohnen, die irgendwann also aus den blöden Städten ihrer Familienzeit flohen, um im schönen Berlin ein eigenes Leben zu beginnen. Wobei mit „Junggesellen“ auch die gemeint sind, die zwar in einer Beziehung leben, aber eben nicht zusammen und vor allem keine Kinder haben.

Weihnachten ist das Familienfest par excellence und ohne Kinder undenkbar oder doch zumindest was sehr anderes; eine freudlos künstlich atheistische Veranstaltung vielleicht – keine Ahnung; ich verbrachte bislang jedes Weihnachtsfest bei meinen Eltern, auch wenn ich mir jedes Jahr wieder kurz überlegte, ob ich nun hinfahren sollte oder nicht. So ganz froh ist man zwar auch nicht, wenn man hinfährt, doch die Entscheidung, es ohne besondere Gründe – Zerwürfnisse usw. – sein zu lassen, kommt mir eher noch unsouveräner vor. Es hat dann so etwas Demonstratives.

Es gibt ja einige, die Weihnachten in Berlin ganz selbstständig unter Freunden verbringen und ihre Stammfamilie dann kurz vor Weihnachten oder so besuchen. Weihnachten sei zu stressig, sagen sie, zu sehr von den immergleichen Ritualen bestimmt, die der gelingenden Kommunikation im Wege stehen. Wenn man sich dagegen an anderen Tagen besuchen würde, könne man freier miteinander umgehen. Das hat zwar was für sich, gerade auch, wenn man an diejenigen denkt, die zu Hause plötzlich zu nichtrauchenden Heteros werden. Andererseits hat es aber auch wieder so etwas Hilfloses – wie zum Beispiel den Fernseher aus der Wohnung zu verbannen. Irgendwie kommt mir die Weigerung, am ach so verlogenen Weihnachtsfest teilzunehmen auch so affektiert vor, wie aus der Kirche auszutreten und zu meinen, damit sei man nun das Christentum los.

Sich den komischen Weihnachtsritualen auszusetzen finde ich also wichtig, auch wenn ich nicht weiß, ob ich das machen würde, wenn keine kleinen Nichten da wären. Aber Weihnachten ist ja auch so ein Jahresabschluss, in den man sich aus dem alten Jahr rettet, um ein paar Tage in der Jahresendzeit auszuruhen und im Schutz von Ritualen kann man sich, wie ich finde, besser erholen.

Das weiß man. Trotzdem wird es mit der Zeit komischerweise nicht einfacher, auch wenn man nicht mehr ganz so entsetzt zusammenzuckt, wenn die Mutter zu Weihnachten an einem herumzupft – „Wie siehst du denn aus und was sollen denn die Leute denken?“ – oder einem nahelegt, fürs Fest irgendwelche Anzüge des Vaters anzuziehen, in denen man äußerst albern aussehen würde. Weihnachten ist kompliziert, wem sagt man das, und besonders in diesem Jahr, wo der Sommer bis in den Dezember hineinreichte und vierter Advent und Heiligabend auf einen Tag fallen.

Vor Weihnachten ist man oft deprimiert, obgleich man weiß, dass Depressive die größen Terroristen im Innen- und Außendienst sind und depressives Denken falsches Denken ist – gerade weil es so stimmig ist, wie die meisten Ideologien. Trotzdem kuschelt man sich ab und an in die weihnachtliche Opferrolle – wie die Innereien einer weihnachtlich misslungenen Rinderroulade – und fürchtet sich vor Weihnachten, das anders als in der Kindheit, immer zu früh kommt.

Nie hat man das geschafft, was in diesem Jahr eigentlich noch zu erledigen gewesen wäre. Was man schenken soll, weiß man eh nicht und hat auch keine Zeit, was zu kaufen. Geschenkt haben will man eigentlich auch nichts, und dann findet man es aber wiederum wichtig, dass die Kinder Geschenke kriegen. Deren Wünsche sind jedoch häufig recht diffus oder übersteigen die eigenen Mittel. Am schönsten wäre es, wenn der erwachsene Teil der Familie auf die Schenkerei verzichten würde, und den Kindern stattdessen mehr schenken würde, finde ich. Doch die andern wollen da leider nicht mitmachen.

Irgendwie ist das ja auch völlig sinnlos! Vor acht Jahren zum Beispiel schenkte ich meiner Schwester ein Abonnement des Freitag. Zwei Jahre fand sie die Zeitung intressant, dann nicht mehr so. Und seit sechs Jahren nehme ich mir jedes Weihnachten vor, die Zeitung wieder abzubestellen und verpasse das immer wieder und ärgere mich sehr. Geld schenken wäre auch ganz okay, nur darf das dann auf keinen Fall gespart werden.

Weihnachten verbringt man in einer Welt, die sich sehr unterscheidet von der, in der man zu leben gewohnt ist, wenn man nur selten „nach Haus“ fährt. Die kleinstädtische Familienwelt wird einem von Jahr zu Jahr immer fremder, weil der Anteil der Lebenszeit, die man mit seinen Eltern und Geschwistern verbracht hat, von Jahr zu Jahr immer kleiner wird. Man selber lebt in einer ganz anderen Welt mit anderen Vorlieben, Ängsten, mit anderen Kriterien dessen, was man gut und was man schlecht findet. Es gibt kaum Berührungspunkte zwischen der Berliner Welt und der der Eltern und Geschwister.

In schwachen Stunden hat man Angst davor, sich im Blick der elterlichen Normalitätsvorstellungen als Loser zu fühlen, was umso schlimmer wäre, weil dies Gefühl ja der Beweis dafür wäre, dass man es tatsächlich auch ist, also den barbarischen Horden des Über-Ichs nicht mit der angemessenen Härte zu begegnen weiß. Wo man von allen Seiten angeschrien wird, sich gefälligst harmonisch zu fühlen, spürt man die eigene Disharmonie besonders. Das nachmittägliche Fernsehprogramm in der Vorweihnachtszeit erledigt den Rest.

Seltsam ist auch, dass man einerseits in seinem Vorweihnachtskochtopf immer wieder betont, wie anders man doch als der Rest der Familie sei, und andererseits mit der Zeit immer mehr Ähnlichkeiten entdeckt. So wird man von seinen Besonderheitsattributen entkleidet, wenn man Weihnachten nach Hause fährt. Am besten ist es, wenn man Teile von sich selber in den Kindern der Schwester wiederfindet – die Angst vor dem Weihnachtsmann zum Beispiel – ,und am besten an Weihnachten ist es, am ersten Weihnachtstag ab sechs im Bett so schön Kinderfernsehen zu gucken mit den quietschenden Nichten, die sich todlachen, wenn man sich mit einem „Weißt du, wie ich heiße – Hans Joachim Scheisse!“ längst von seiner idiotischen Weihnachtsnervosität verabschiedet hat.