Kein Jesus, kein Lenin, kein Dummkopf

Wie man der zähen Dreifaltigkeit von Gläubischsein, Besserwisserei und Dumpfheit vielleicht ein Schnippchen schlagen kann

Das erste, woran ich denke, wenn ich das Wort Vertrauen höre, ist die Schlange Kaa aus Walt Disneys „Dschungelbuch“. „Verrtrrau miierr!“, zischelt die Würgeschlange und hypnotisiert den kleinen Mowgli, den sie so gern verdrücken möchte. Die Szene ist ein gutes Rüstzeug, um einigermaßen unbeschadet durch die Welt zu kommen: Wenn man jemanden „Vertrau mir!“ sagen hört, „Hab keine Angst!“ oder „Alles wird gut!“, ist man in einen kitschigen Film oder an einen nicht minder zweifelhaften Menschen geraten und weiß, dass man schön auf sich Acht geben muss: Unterhosen und Portemonnaie festbinden, sich vor metaphysischem Geschwalle hüten und schon mal die schnellen Schuhe aus dem Schrank holen.

In seiner Kriminalgeschichte „106.000 Dollar Blutgeld“ beschreibt Dashiell Hammett, der Erfinder des modernen, hartgesottenen Detektivromans, einen Mann, dem sein Bruder 15.000 Dollar zur Aufbewahrung gibt. Das ihm anvertraute Geld zu stehlen, ist dem Mann ganz selbstverständlich. Vollkommen verwundert, verständnislos und beinahe vorwurfsvoll sagt der Betrüger über seinen Bruder: „Um lang zu leben, hatte er zu viel verdammtes Vertrauen. Die Sorte hombre war er – vertraute sogar dem eigenen Bruder.“

Der schottische Erzähler Colin McLaren zeichnet in seinem Roman „Rattus Rex“ einen ausgebufften 17-jährigen Jungkriminellen durchaus mit Sympathie: „Weder mit Verwandten noch mit Freunden belastet, sah er in aller Welt seinen Feind und begegnete jedermann mit demselben heiteren Verzicht auf Treue, Redlichkeit, Zartgefühl und Heuchelei.“ Schön gesagt.

Glaub keinem ein Wort, und tu, was du zu tun hast – das ist eine Maxime, mit der man nicht schlecht fährt. Andererseits möchte man auch Romantiker sein dürfen, Idylliker, und nicht immer herumlaufen, als hätte man in Drachenblut gebadet. Also gibt man sich – so man dazu fähig ist – ganz und gar hin, uneingeschränkt – und kriegt prompt einen auf den Däz. Boing! Das tut weh, und das ist gut so. Man muss Lehrgeld zahlen – als allzu vertrauensvoller Mensch ist man für die anderen Kinder einfach eine zu große Verlockung. Man ist es seinen Mitmenschen quasi schuldig, ein bisschen vorsichtig bei ihnen zu sein und sie nicht auf dumme Gedanken zu bringen. Denn allem kann der Mensch widerstehen, nur nicht der Versuchung.

Komische Heilige, deren dauerlächelndes Gottvertrauen auch durch eigene Erfahrung nicht getrübt werden kann, sind deshalb nicht wohlgelitten. Jesus wurde von Leuten ans Kreuz gehauen, denen das ewige Hinhalten der anderen Wange begreiflicherweise entsetzlich auf die Nerven ging. Der Mahatma-Sorte Mensch will ich nicht trauen – wer die anthropologische Lektion von der Gemeinheit des Menschengeschlechts mit aggressivem Liebsein auskontern will, ist zwar irgendwie süß, aber vor allem nervtötend. Betrachtet man die Blutsbrüder Winnetou und Old Shatterhand und ihren Vertrauenskitsch, möchte man es doch lieber mit den Bösböcken halten; Karl Mays hehres Gelulle, die Harmonie von Henrystutzen und Silberbüchse und seine edelmenschelnde, weltumspannende Anbrüderei sind so ölig, dass man aus ästhetischem Widerwillen dagegen zu den Schurken halten muss. So schön es ist, auf die Stimme des Herzens zu hören – wenn sie Blödheit predigt, ist dann auch mal gut.

Warum sollte man anderen über den Weg trauen, warum sich selbst? Vernunftgründe dafür gibt es keine. Vertrauen ist der Triumph des Wunsches, die Welt solle so ganz anders sein, als man sie ständig erfährt. Die Erfahrung sagt: Misstraue! Hartnäckig aber hält sich der duselige Wunsch nach Harmonie und Happy End. Und man kann ihm auch, wenn man weiß, was und warum man es tut, durchaus nachgeben. Dauerndes Auf-der-Hut-Sein macht fiese Falten und Mundgeruch. Wer sich chronisch für ganz gewieft und für oberschlau hält und seine armselige Befriedigung darin sucht, andere übers Ohr und über den Tisch zu hauen und zu ziehen, hat auf Dauer nicht mehr zu bieten als ein Zwölffingerdarmgesicht, ein rachitisches Innenleben und einen extrem geizigen Gang.

Über Stalin wird erzählt, als Junge sei er von seinem Vater auf eine hohe Mauer gestellt worden. Der Vater habe die Arme ausgebreitet und lächelnd gesagt: „Spring!“ Der kleine Stalin sprang, der Vater trat zur Seite, und der Junge lag heulend am Boden. Dann habe der Vater gesagt: „Siehst du – du darfst niemandem trauen.“

Das Credo von Stalins Vorgänger Lenin, „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, liegt noch heute wie ein Schmierfilm auf allen autoritären Plänen zur Menschheitsbefreiung. Vertrauen mag nichts sein als mangelnde Vorsicht – permanente, umfassende Kontrolle aber ist so viel angestrengter, kleinlicher, unerleuchteter und in der Konsequenz widerlich: Das ewige „Wir müssen wachsam sein!“ ermuntert nur die Kontrolleure und Blockwarte aus Neigung.

Dagegen schimmert das dezent Vertrauensvolle hochsympathisch. Und hat auch umgekehrt manchen Reiz: Hochstapler, Heiratsschwindler, Betrüger und andere Luffis haben so viel mehr Charme als die notorisch ehrlichen Häute, die biederen und treuen Schluffen. Lieber aus den schönsten Traumwolken auf die Nase gefallen als mit einem lahmen Zock sicher auf dem Teppich geblieben. Vertrauen ist vielleicht Dummheit, aber ohne diese Art Dummheit ist alles langweilig.

Es ist nicht angenehm, wenn man als bewusst naiver und vertrauensvoller Mensch für blöd gehalten wird, für das perfekte Opfer, dem man die Taschen fegen kann nach Gusto. Aber man kann ja, wenn nötig, auch anders. Außerdem ist Natürlichkeit eine Sache, mit der man Abzocker aller Fraktionen in die Verzweiflung treiben kann. Die wollen nicht kapieren, dass man die billigen Lehren, die sie zu bieten haben, nicht lernen will – weil man sie längst in- und auswendig kennt, als öde verworfen hat und sie absichtsvoll ignoriert. Das bringt die Knieperköpfe und Rechenschieber ins Wanken, vielleicht – oder sie werden wenigstens sauer.

„Die Welt will betrogen sein, gewiss. Sie wird aber ernstlich böse, wenn du es nicht tust“, schrieb der große Hochstapler Walter Serner. Das ist dann vielleicht der wirkliche, der wahre Anreiz, kein Betrüger zu sein: die Welt böse auf sich machen und sich mit ihr fetzen können, denn Reibung erzeugt Wärme.

Kein abwatschbarer Jesus sein, kein paranoider Lenin, kein Dummkopf – wenn man das schafft, ist das sehr viel. Christentum, Marxismus und Dummheit sind noch immer die beliebtesten Religionen. Gern soll man, mit voller Absicht, naiv und vertrauensvoll sein. Sich aber aufregen, wenn die Sache schief geht, sich beschweren, wenn man ein Messer ins Kreuz bekommt, das soll man nicht. WIGLAF DROSTE